Die Stadt am Ende der Zeit

der Proszeniumsloge.«
    Jebrassy folgte ihr etwa fünfzig Meter und stieg hinter ihr in eine dunkle Grube zwischen den Wänden einer Kammer, deren Dach eingestürzt war. Unten in der Proszeniumsloge war eine kleine Falltür eingelassen, die offen stand, teilweise aber von Geröll blockiert war.
    »Hast du Angst vor engen Räumen?«, fragte Tiadba, während sie ein paar Steine und Ziegel aus dem Weg räumte.
    »Ich glaube nicht, solange es irgendeinen Weg nach draußen gibt.«
    »Na gut, das hier ist nämlich ein Tunnel. Er zieht sich eine ganze Strecke hinter der Lichtwand entlang und geht danach in einen Schacht über, der nach oben führt. Ich glaube, in der Nähe gab es früher einen Aufzug, doch der funktioniert nicht mehr. Wenn wir nach oben wollen, müssen wir eine enge Wendeltreppe hinaufsteigen, und sie hat jede Menge schmaler Stufen. «
    »Zeig’s mir.«
    Fröhlich griff Tiadba nach Jebrassys Hand und zog ihn mit.

ZEHN NULLEN

19
Seattle
    Meilenweit war Ginny der Musik gefolgt. Jetzt war sie ans Ende ihres langen Spaziergangs gelangt und starrte voller Ehrfurcht auf das, was hier auf sie wartete: ein breites Spruchband mit roten und schwarzen Buchstaben, wie sie typisch für Zirkusankündigungen waren. Und sie besagten:
    LE BOULEVARD DU CRIME.
    Wahre Kaskaden von Tönen drangen durch die Luft. Sie stammten von Drehleiern, Dampfpfeifenorgeln, elektrischen Gitarren, Flöten, Posauen und Trompeten – ein schriller, blecherner und dennoch melodiöser Lärm, der triumphierend in den sternenklaren Himmel stieg und den Wolken Glanz verlieh.
    Ein breites Lächeln huschte über ihr erregtes Gesicht.
    »He, schöne Frau!«, rief ein Clown in rot-blauem Kostüm. Der riesige weiße Haarschopf, der ihn wie ein Heiligenschein umgab, brachte ihn fast aus dem Gleichgewicht. »Feier mit uns das Gauklerfest. Verrückte sind wir, besagt der Test, doch besser als jeder Jahrmarkt in diesen Landen – als Geister sind wir ja nicht mal vorhanden!«
    Der Clown führte einen zähnefletschenden Affen, der ebenso graziös wie vorsichtig auf meterlangen Stelzen einherstolzierte.
    Das Gauklerfest erstreckte sich über viele Tausend Quadratmeter Gras und Schotter, die oberhalb des wie Obsidian funkelnden Wassers der Elliot Bay lagen. Ein großer Getreideheber markierte das nördliche Ende, während die Landseite von graubraunen Mietskasernen und Gebäuden mit Eigentumswohnungen gesäumt war. Die Südseite ging in einen Skulpturengarten über, der jetzt geschlossen war, und in einen Parkplatz, auf dem ein wildes Durcheinander aus abgestellten Wagen herrschte. Rote und gelbe Zeltbahnen flatterten im leichten Wind. Marktwagen mit kulinarischen Angeboten und Wohnwagen hatten sich neben dem Parkplatz gesammelt.
    Zwischen den Marktwagen am südlichen und dem Getreideheber am nördlichen Ende waren in einer endlos langen Schlangenlinie Schaubühnen und Manegen unterschiedlichster Größen aufgebaut, die alle Schilder trugen: THÉÂTRE-LYRIQUE, CIRQUE OLYMPIQUE, FOLIES DRAMATIQUE, FU-NAMBULES, THÉÂTRE DES PYGMES, THÉÂTRE PATRIOTIQUE, DELASSEMENTS-COMIQUES.
    Noch nie hatte Ginny so viele Artisten auf einem Haufen gesehen: Clowns, Musiker, Akrobaten, Magier und natürlich auch Pantomimen. Am liebsten hätte sie gleichzeitig gelacht und geweint, so sehr versetzte das Spektakel sie in die Jugendzeit, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte, doch in die sie so verzweifelt gern zurückgekehrt wäre.
     
    Während Jack auf dem Radweg entlangfuhr, nach vertrauten Gesichtern Ausschau hielt und dabei schwungvoll das Vorderrad
von rechts nach links und wieder nach rechts lenkte, um einigermaßen im Gleichgewicht zu bleiben, entdeckte er einen Kreis, in dem geprobt wurde – und darin Flashgirl, die blaue Echse, Joe-Jim und andere alte Freunde, die sich für ihren Manegenauftritt aufwärmten.
    Hunderte von Besuchern wuselten in Gruppen umher, lachten, applaudierten, machten Oh! und Ah! und warfen Geldscheine und Kleingeld in Schachteln und Hüte. Es sah ganz nach einem Klingklong -Abend für Jacks Freunde und Kollegen aus. Straßenkünstler nannten erfolgreiche Auftritte Klingklong- Vorstellungen – Lautmalerei, denn bei solchen Vorstellungen klingelten die Münzen und fielen mit einem Klong auf dicke Stapel von Geldscheinen.
    In der ersten Manege baute T-Square, der ein feuerrotes Trikot trug, gerade drei brennende Behälter und eine runde Rampe im Achterbahn-Design für sein Einrad auf. Auf dem Kopf trug er einen grellblauen, innen mit Stahl