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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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ausgekleideten Hut, der seine riesige, mit Strass besetzte Schmetterlingsbrille überragte. Während seines Auftritts sprach er kein Wort, führte nur seine Akrobatik auf dem Einrad vor und radelte durch die beängstigend auflodernden Flammen, die aus den Behältern schossen. Jack wusste etwas, was die Zuschauer nicht durchschauten: Gleich würde T-Square seinen Hut Feuer fangen lassen und die Hilfe einer vorgeblichen »Zuschauerin« fordern: Seine Tochter, eine kluge, fixe Neunjährige, würde die Flammen gleich darauf mit Schaumspray aus einem Feuerlöscher ersticken.
    Somnambul, der Schlafwandler, der keine Manege brauchte, führte eine Reihe spannender Kartentricks vor, fiel danach scheinbar in Erstarrung, stemmte sich mit flatterndem Taschentuch
und einem Hut, der ständig vom Kopf zu fliegen drohte, gegen einen imaginären Wind, schmiegte anschließend seine Wange an die aneinandergelegten Hände und schnarchte bis zur nächsten Nummer.
    Als Jack vorbeiradelte, zwinkerte er ihm zu. Jack legte zwei Finger an die Schläfe und grüßte zurück.
    Flashgirl arbeitete nicht mit Feuer, doch mit ihrem gelborangefarbenen Overall, der sinnlichen Körperhaltung und wütenden, superfeministischen Sprüchen gab sie den Leuten auch so genügend Zunder. Ihr Auftritt bestand darin, mit dem Jonglieren von Messern und Zauberstäben Illusionen zu erzeugen, ekstatisch zu tanzen und die männlichen Zuschauer mit verbalen Beleidigungen zu überschütten. Deren »sexistischen Einstellungen« gab sie die Schuld, wenn irgendein Zaubertrick nicht klappte. Fast alle lachten; sie war gut. Nicht ein einziges Mal hatte Jack erlebt, dass Flashgirl einen Zuschauer tatsächlich verärgert hatte. Doch jetzt war sie fünfundvierzig Jahre alt und verlor allmählich an Schwung. In Anbetracht ihrer hängenden Schultern und des leisen Keuchens beim Tanzen dachte Jack, dass sich ihr jahrzehntelanges Rauchen inzwischen vielleicht rächte.
    Aber Gaukler arbeiteten immer, ob gesund oder krank. Er hoffte, dass sie nur gegen eine Erkältung ankämpfte.
    Jack wusste, wo die den Künstlern vorbehaltene Zone lag: am Ende eines kurzen Pfades, der sich bis zu einem kleinen Garderobewagen schlängelte. Dieser Bereich war mit Bändern und Pfosten abgesperrt und wurde vom Dunkel des riesigen Getreidehebers überlagert, der im Mondlicht Schatten warf. Hier, im Halbschatten, hockte Joe-Jim auf einem umgestülpten weißen Eimer und aß Obstsalat aus einem Plastikschälchen.
Als er Jack entdeckte, sah er ihn einen Moment lang ausdruckslos an.
    Er erinnert sich nicht an mich.
    Gleich darauf schien etwas bei ihm einzurasten – in seinem Kopf zu klicken –, und er winkte Jack mit der Gabel zu. »Bruder Jack, warst lange weg!«, rief er und spuckte dabei ein paar Orangestückchen aus.
    »Mit wem hab ich heute Abend die Ehre?«, fragte Jack und schüttelte ihm nach Gauklerart die Hand, indem er ihm auf die Handfläche klatschte und drei Finger mit seinen verhakte.
    »Heute Abend sind wir Jim. Joe macht Urlaub in Chicago. Ist in einer Woche zurück. Ruft mich aber jeden Tag an, um sich zu melden.«
    Joe-Jims Nummer bestand darin, akrobatische Kunststücke zusammen mit einem unsichtbaren Partner vorzuführen. Mitten in der Luft griff er bei allen möglichen Gelegenheiten zum Mittel der Pantomime, und wenn er in Bestform war, wirkte das wirklich verblüffend. Er war zwar nur wenige Jahre älter als Jim, sah aber älter aus und auch so, als ließe seine Ernährung zu wünschen übrig. Sein Blick war gehetzt, die Gesichtsfarbe von ungesundem Gelb, und an beiden Wangen und am Kinn spross ein Zweitagebart. Ein Handgelenk war dick mit einem verschmutzten Wundverband umwickelt. Ein Schnitt, der quer verlief, wie Jack annahm – kein ernsthafter Selbstmordversuch.
    »Wieso machst du hier nicht mit?«, fragte Joe-Jim. Er bestand darauf, stets mit beiden Namen angesprochen zu werden, unabhängig davon, wer von beiden anwesend war. Nur wenige Zuschauer ahnten, dass jede der bei den Vorstellungen wechselnden Personen die Hälfte einer tatsächlich gespaltenen Persönlichkeit war.
    »Die Ratten streiken«, erwiderte Jack.
    »Spüren ihr Alter, genau wie ich«, erwiderte Joe-Jim. »Sind keine guten Zeiten, Jack.« Der unverbesserliche Pessimist zog eine Packung Zigaretten heraus und klopfte eine auf die Handfläche. »Hält die Dämonen auf Abstand«, bemerkte er und zündete sie mit zusammengekniffenen Augen an.
    »Apropos Dämonen«, sagte Jack. »Sind dir in letzter Zeit welche

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