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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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begegnet?«
    »Nicht häufiger als sonst.« Joe-Jim zog einen anderen Eimer heran, drehte ihn um und bot Jack an, Platz zu nehmen. Der Pantomime und Akrobat hatte schon viel durchgemacht: Raubüberfälle, Liebeskummer, Wochen und Monate, in denen er immer wieder in psychiatrischen Kliniken gelandet war. Jacks Einschätzung nach hatte er höchstens noch ein, zwei Jahre vor sich, bis die Straßen und die Armut – mal abgesehen von den Dämonen – ihm den letzten Rest Gesundheit rauben würden. Das Leben als Straßenkünstler war hart.
    »Bewegst du dich jemals im Leerlauf?«, fragte Jack. »Hast du Momente, in denen weder Joe noch Jim zu Hause sind?«
    Joe-Jim blies eine Rauchspirale in die Luft. »Mit zwei unsichtbaren Kerlen könnte ich ja gar nicht auftreten. Warum?«
    »Nur so ’ne Frage.«
    »Nein, aber es nervt mich, wenn wir Krach haben und ich den unsichtbaren Kerl nicht dazu bringen kann, seine Rolle zu spielen.« Er lächelte verschlagen. »Gleich wirst du sagen, dass ich mich ganz gut arrangiert habe.«
    »Du hast dich ganz gut arrangiert.«
    » Ich jedenfalls bin mir da sicher. Niemals könnte ich in einem winzigen Büro arbeiten, mit Kollegen, die sich fragen, wer von uns an welchem Tag auftaucht.« Er ließ die halb gerauchte
Zigarette ins Gras fallen und trat sie mit dem Absatz seiner Schlappen aus. Ganz plötzlich verkrampfte sich seine Miene. »Achtung, da kommt der wandelnde Schatten, der sich als Mensch ausgibt.«
    Ein hochgewachsener ausgezehrter Körper in Gesellschaftskleidung samt Zylinder – der Anzug war von Kopf bis Fuß in eine schwarze und in eine weiße Hälfte gespalten und der Rücken mit einem metallisch blauen Skelett verziert – schlenderte auf sie zu. Er ging wie eine Zombieversion von Fred Astaire. Bis auf die schwarz umrandeten Augen war sein Gesicht weiß geschminkt. Er strahlte tödliche Schwermut aus.
    Joe-Jim beachtete er nicht. Stattdessen steuerte er zielgerichtet und mit unverhüllter Gier direkt auf Jack zu.
    »Hau ab, Sepulcher«, sagte Jack und stand mit geballten Fäusten auf.
    Joe-Jim sah nicht hin, er hatte den Blick nach innen gewandt.
    Sepulcher durchbohrte Jack mit seinen scharfen, tief liegenden Augen. Er wirkte ausgehungert, aber nicht nach Essen. »Wie geht’s deinem Vater, Jeremy?« Seine Stimme klang so hohl und verloren wie die eines in einer Zelle eingesperrten Stiers.
    »Ist immer noch tot.« Schon vor Jahren hatte Jack seinen Namen geändert, wie alle hier wussten.
    »Hatte ich ganz vergessen. Ist immer gut, Unangenehmes zu vergessen. Doch dann hab ich dich gesehen, und alles war wieder da.«
    Sepulcher schien niemals viele Zuschauer anzuziehen oder gutes Geld zu verdienen. Jemand aus dem Artistenkreis hatte spekuliert, er sei womöglich ein reicher Exzentriker. Jedenfalls
war seine Nummer wirklich schlecht. Sie bestand darin, dass er stundenlang reglos an einer Straßenecke stand, mit den Augen die Passanten verfolgte, sich gelegentlich aus der Erstarrung löste und eine Totenklage pfiff.
    Manche Gaukler – die übelsten einer ansonsten netten Gruppe – waren unheimliche Monster.
    In Wirklichkeit hieß Sepulcher Nathan Silverstein.
    »Hab mit deinem Vater zusammengearbeitet, Jack«, sagte er. Das stimmte. Vor fünfzehn Jahren waren Silverstein und Jacks Vater als Komikerduo aufgetreten.
    »Ich weiß.« Jack drehte sich um, weil er sich von Joe-Jim verabschieden wollte, doch Sepulcher griff mit seinen knochigen Fingern, die wie Schraubzwingen wirkten, nach seiner Schulter.
    »Eigentlich wollte ich ja gar nicht hierherkommen«, knurrte Sepulcher. Er sog die Wangen ein und zog die dünnen, weiß geschminkten Brauen zusammen. »Diese Leute hassen mich.«
    »Warum nur«, erwiderte Jack.
    »Aber du, der junge Sohn eines alten Freundes, du besitzt etwas, das ich brauche.«
    Jack senkte den Blick. »Lass mich los, sonst breche ich dir den Arm.«
    Sepulcher gab ihn frei, doch seine weißen Finger krümmten sich. Mit Zeigefinger und Daumen formte er einen Kreis von knapp fünf Zentimeter Durchmesser. »So groß. Dunkel, schartig, glänzend. Von der Zeit verbrannt. Ein schwarzer Stein mit rötlichem Auge. Die wollen, dass ich ihn finde.«
    Jack lieferte ihm mit knirschenden Zähnen ein Blickduell.
    »Um eine Schuld zurückzuzahlen«, setzte Sepulcher nach. » Du hast ihn, das weiß ich.«
    Jack schüttelte den Kopf. »Hab ihn nicht gesehen, Nathan.« Und das stimmte in gewisser Hinsicht.
    Sein Vater und Silverstein hatten sich nach wenigen Monaten getrennt,

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