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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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obwohl sie bei ihren Auftritten auf Kleinkunstbühnen im Mittleren Westen relativ viel Publikum angezogen hatten. Damals war Sepulcher anders als heute gewesen, aber Jack hatte ihn nie gemocht.
    »Dieser Stein …« Offenbar schaffte Sepulcher es nicht, den Gedanken zu Ende zu bringen. Jack war klar, dass er jetzt gehen musste, wollte er eine Schlägerei mit Sepulcher vermeiden. Also verabschiedete er sich von Joe-Jim, schlug einen großen Bogen um Sepulcher und ging schnell zu seinem Fahrrad.
    Sepulcher, fest davon überzeugt, dass Jack ihn belogen hatte, sah ihm resigniert hinterher. Jack konnte regelrecht spüren, wie die Augen des Mannes sich wie winzige Nadeln in seinen Nacken bohrten. »Das war früher mein Stein, Jack! Dein Vater hat ihn mir gestohlen. Seitdem war mein Leben die wahre Hölle!«
    Andere Gaukler scharten sich um Sepulcher. Langsam und wohlüberlegt umringten sie ihn, raunten ihm etwas zu, stupsten ihn an und drängten ihn leise dazu weiterzuziehen.
    Jack radelte nach Süden.
    Der ganze Abend war ihm verdorben.
     
    Vor Glück wie benommen, schlenderte Ginny umher. Immer schon hatte sie den Zirkus, Straßenkünstler und Magier geliebt und sich stets eine Geburtstagsparty auf einem großen, breiten Rasen gewünscht, bei der Spielleute, tanzende Hunde und Jongleure auftraten. Jetzt konnte sie fast so tun, als wäre das hier ihre Party, eine Party unter den Sternen, ihr ganz persönlicher magischer Moment.
    Hier bin ich also, endlich mal glücklich. Und unversehrt.
    Gleich darauf fiel ihr ein junger Mann auf, der vorgebeugt auf einem Fahrrad saß und auf dem Teerweg nach Süden fuhr, wobei er über die Schulter hinter sich blickte. Er war mager, hatte jedoch einen schönen Teint und muskulöse Unterarme, die unter einem kurzärmeligen gestreiften Hemd zu sehen waren. Seine schwarze Haarmähne wehte, und die dunklen Augen blickten konzentriert. Er wirkte nicht verängstigt, aber wachsam.
    Wie gelähmt blieb sie stehen. Ihre Arme begannen zu zittern. Sie wollte ihm nachlaufen und ihn nach seinem Namen fragen, doch er trat nun kräftig in die Pedale, beschleunigte und ließ gleich darauf den langen Streifen mit Zelten, Manegen und dem Spruchband LE BOULEVARD DU CRIME hinter sich.
    Sie kannte ihn.
    Obwohl sie einander nie begegnet waren.
    »Warte doch!«, rief sie und lief ihm nach.
    Aber der Radfahrer hielt nicht an. Er verschwand in Licht und Schatten des Hafengebiets, unter dem sternenübersäten südlichen Himmel.

20
Queen Anne
    Jacks Mitbewohner Burke war nicht nach Hause zurückgekehrt. Nach dem Zusammenstoß mit Sepulcher sehnte Jack sich nach Gesellschaft, die über die der Ratten hinausging. Durch das offene Fenster drangen Schreie von Seemöwen; anscheinend
warnten sie einander vor einem vom Meer heraufziehenden Sturm. Bald würde das Wetter umschlagen.
    Das hastig verschlungene Brathähnchen und das Glas Rotwein lagen Jack wie Blei im Magen. Er hielt sich die Hand vor den Mund, da er dachte, er müsse aufstoßen, aber das war Fehlalarm. Gleich darauf griff er in die Hosentasche, um die Kleinanzeige herauszuholen. Während er das Blatt entfaltete und glatt strich und die simple Frage wieder und wieder las, überlegte er, was er tun sollte und wem er vertrauen konnte.
    Überall, wo er hinging, hatte er das sonderbare Gefühl, verfolgt zu werden. Irgendjemand hielt ihn für etwas Besonderes ; vielleicht taten das sogar alle Menschen in seiner Umgebung. Doch Jack wollte nichts Besonders sein, sondern einfach so weiterleben, wie er es schon seit Jahren tat.
    Seit dem Tod seines Vaters. Seit der Beerdigung. Seit er unter den Habseligkeiten seines Vaters das Kästchen entdeckt hatte, das manchmal den geschmolzenen, seltsam geformten Stein mit dem rötlichen Auge barg – und manchmal auch nicht.
    Die Klinik. Ärzte. Nadeln. Mein Leben in andere Hände geben.
    Es war ein Abend, an dem er keine Ruhe fand, wie so oft in letzter Zeit. Er ließ sich auf den Futon fallen, der im Schlafzimmer an der Wand lag. »Eigentlich ist es gar keine richtige Stadt«, murmelte er ins Dunkle. »Eher ein Zufluchtsort. Eine Festung. Der letzte, prächtigste Ort auf der Erde.«
    Eine Ratte wälzte sich herum und piepste mit geschlossenen Augen, während ihre erhobenen Vorderbeine zuckten.
    »Außerdem würde ich es nicht träumen nennen.«
    Mit zusammengezogenen Brauen musterte er die Telefonnummer. Falls die Anzeige überhaupt irgendeine Bedeutung
hatte (was sicher nicht zutraf), bot sie eine bessere Alternative als

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