Die Stadt am Ende der Zeit
sich im Zug der durch den Gang wehenden Heizungsluft wieder vereinten.
Fred verfolgte diese Spuren, die sich in wellenartigen Zyklen trennten und wieder vereinten, so lange mit Blicken, bis das Bild vor seinen Augen verschwamm. Danach beeilte er sich, das Gespräch mit dem Fremdling in seinem Wohnzimmer wieder
aufzunehmen. Doch zuerst ging er ins Bad und schmierte sich eine Fingerspitze Mentholsalbe unter die Nasenlöcher.
Ob Daniel oder Charles: Jedenfalls stank dieser Mann bis zum Himmel.
Während der Abend nach und nach in den Morgen überging, tranken sie etwas – Daniel Sodawasser, Fred Scotch. Schon leicht angetrunken, schwelgte Fred in Spekulationen. »Wie konnten Sie im Körper eines anderen Menschen landen? Haben Sie Ihre Seele auf ihn übertragen? Gibt es so etwas wie einen Geist, den man weitergeben kann?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Daniel. »Es ist mir vorher nie passiert.« Jedenfalls kann ich mich nicht an so etwas erinnern.
»Hat es etwas mit diesen Weltlinien zu tun?«, fragte Fred mit erregtem Gesicht. »Könnten wir eine Gleichung entwickeln, um es zu beschreiben?«
Daniel beobachtete ihn genau. »Könnte sein.«
»Eine Weltlinie wird abgetrennt – löst sich –, fliegt herum und verbindet sich mit der nächsten ähnlichen Weltlinie. So als spalte sich DNA oder als lösten sich Drähte in einem Kabel. Ich weiß nicht, wie das passiert, es ist nur eine Metapher. An was in Ihrer Vergangenheit erinnern Sie sich noch?« In Anbetracht des plötzlichen Gewichts dieser Frage runzelte er heftig die Stirn.
Daniel blickte sich im Zimmer um und zuckte die Achseln. »Von Tag zu Tag ist es weniger. Manches ist ziemlich nebulös. «
Fred stützte die Ellbogen auf die Knie und schwenkte das Glas Scotch langsam hin und her. »Bis jetzt haben Sie sich auf
die Erinnerungen früherer Versionen Ihres Ichs gestützt, doch das können Sie jetzt nicht mehr. Man kann nicht alle Erinnerungen von einem Körper auf den anderen übertragen. Dieser Körper – sind nicht Sie. Sie gleiten auf einer Welle von Erinnerungen aus der Zeit des Transfers dahin, doch diese Welle ebbt inzwischen ab.«
Daniel gab ihm Recht.
»Genau«, sagte Fred, begeistert von der eigenen Genialität. »Falls irgendetwas davon zutrifft, dann ist das auch nur logisch. «
»Ich habe mir bestimmte Dinge notiert«, erklärte Daniel.
»Meine Frau könnte – falls Sie wirklich Daniel sind, meine ich – wichtige Erinnerungen beisteuern, Dinge aus Ihrer Vergangenheit. Natürlich würde das nicht alles ausgleichen, was Sie verloren haben, aber es wäre besser als nichts.«
Daniel senkte den Blick. Plötzlich fürchtete er, dieser intelligente Mann könne es womöglich schaffen, alles bis zur letzten Konsequenz zu durchdenken, bis zu dem, was bald zwangsläufig geschehen würde. Doch zu Daniels Glück interessierte Fred sich offenbar eher für theoretische Probleme als für deren praktische Seite, so dass ihm gar nicht auffiel, dass er selbst einer realen Bedrohung, realer Gefahr ausgesetzt war.
»Wie viele Menschen haben diese Gabe?«, fragte Fred.
»Ich bin nicht der Einzige.«
Freds Augen funkelten. »Wenn andere Weltlinien absorbiert, zerstört oder verändert werden, wandern Leute wie Sie vielleicht hierher aus. Flüchten von anderen, aufgezehrten Weltlinien zu uns. In diesem Fall könnte man anhand der Anzahl von Menschen, die wie Sie hier auftauchen, möglicherweise bestimmen, wie nah die Zerstörung der eigenen Weltlinie ist.
Falls man diese Menschen aufstöbern kann. Ich meine, wie viele Leute würden schon zugeben, dass sie andere Menschen ersetzt und deren Körper übernommen haben?«
»Klingt plausibel.«
»Sie sehen geschafft aus.«
»Das bin ich auch.«
»Es ist spät. Wir müssen uns noch weiter über diese Mersauvin-Lösungen unterhalten. Warum bleiben Sie nicht hier? Eine Couch kann auch nicht schlimmer sein als ein Abbruchhaus.«
»Großzügiges Angebot.«
»Nun ja, mich fasziniert das alles. Wir machen morgen weiter, nach meinen Seminaren.«
»Schlafen wir erst mal darüber«, sagte Daniel. »Wir setzen uns später wieder zusammen.«
VIERZEHN NULLEN
29
Die Ebenen
An ihrem ersten Abend in Tiadbas Nische liebten sie sich nur kurz. Es war zwar vielversprechend, aber nicht das, was Jebrassy sich erhofft hatte. Sie fielen wieder in die Haltung geduldigen Abwartens zurück, doch worauf sie eigentlich warteten, wussten sie nicht. Der künstliche Himmel jenseits der nach oben hin offenen Nische wechselte
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