Die Stadt am Ende der Zeit
überzogenen Tagen hatte Mr. Whitlow (seinen Vornamen hatte Glaucous nie erfahren) sich sorgfältig, aber konservativ gekleidet und eine eher schmächtige Statur, aber eine angenehme, kräftige Stimme gehabt. Auch körperlich war er fit gewesen, obwohl er offenbar schon auf die mittleren Jahre zuging. Natürlich hatte er auch damals schon den Klumpfuß gehabt, der ihn noch immer nicht zu behindern schien.
Jetzt sah Mr. Whitlow im gelblichen Licht des Eingangs ausgezehrt und blass aus. Sein ganzes Gesicht wurde von den riesigen schwarzen Augen beherrscht, die an eine mondlose Nacht denken ließen. Er trug einen eng sitzenden grauen Anzug mit schmalem Revers, weiße Manschetten mit Manschettenknöpfen aus großen Granatsteinen und spitze schwarze Schuhe. Sein glänzendes schwarzes Haar war kurz geschnitten, und unter dem mageren weißen Hals saß eine ungeschickt und hastig gebundene Fliege. Die frühere steife Melone hatte er inzwischen durch einen weichen Filzhut ersetzt. Während er an der Eingangstür stehen blieb, strahlte er Nervosität und Unterwürfigkeit aus. Die Lippen hatte er geschürzt und zu einem Lächeln gespitzt, das bis zu den hohen Wangenknochen, aber nicht zu den Augen reichte. Er wirkte wie die Figur eines Irren in einer Geisterbahn.
»Erinnern Sie sich an mich, Max?«, fragte er.
»Mr. Whitlow, bitte kommen Sie herein.«
Doch der Besucher trat nicht ein, auch nicht, als Glaucous ihm den Weg frei machte. Stattdessen wanderten seine großen Augen suchend durch das Zimmer, das hinter der Tür lag.
Es war Shank gewesen, der Mr. Whitlow Max empfohlen hatte, und Whitlow, der ihn mit dem Nachtfalter bekannt gemacht hatte, jenem nebulösen blinden Mann in dem alten, leer stehenden Herrenhaus in Borehamwood, außerhalb von London. Und der Blinde hatte ihn als Diener der Bleichen Gebieterin eingestellt.
»Ich bin auf Geheiß von Mr. Shank hier«, erklärte Whitlow. »Er hat mir mitgeteilt, dass Sie erst vor kurzem angekommen sind, aber bereits einen unserer Agenten ausgeschaltet haben.«
»Ah.« Glaucous spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Der in Whitlows Worten angedeutete Tadel der Gebieterin konnte selbst den stärksten Mann in Schrecken versetzen. »Bisher hat man mich nie dafür gerügt, dass ich das Unkraut aus unserem fruchtbaren Boden entferne.«
»Die Umstände haben sich verändert«, erklärte Whitlow. »Sie haben unsere Gruppe in einer entscheidenden Phase dezimiert. «
»Ich bearbeite mein Gebiet stets allein, Mr. Whitlow«, stellte Glaucous mit einem letzten Rest von Würde klar. Dieses Zusammentreffen war so seltsam, als träume er, und er ahnte, was das zu bedeuten hatte: Es bestätigte seine Intuition. Eine Schlinge zog sich um ihn zusammen. Warum sonst hätte Mr. Whitlow so viel preisgeben sollen? Denn jetzt wusste er, dass Mr. Shank immer noch lebte, arbeitete und ein Günstling der Kalkfürstin war. Und das, obwohl Shank an jenem schwarzen
Tag, dem 9. August 1924, in Reims doch vor aller Augen in dem schrecklichsten Zeitriss verschwunden war, den Glaucous je gesehen hatte.
»Sie hätten auf diskrete Weise bei uns Auskunft einholen können«, sagte Whitlow.
Glaucous wusste, dass er mit ihm spielte. »Ich arbeite seit neun Jahrzehnten ohne Aufsicht. Mit meinen Arbeitgebern spreche ich nur, wenn ich eine Lieferung für sie habe. Meine letzte Lieferung liegt mehrere Jahre zurück, und damals war von Veränderungen keine Rede.«
Penelope beobachtete sie durch den Spalt ihrer Schlafzimmertür.
Whitlow, der Glaucous’ stille Wut spürte, wollte nach wie vor nicht eintreten. Jäger statteten ihre Besuche stets mit Vorsicht ab und näherten sich ihrer Beute äußerst behutsam. Allerdings lächelte er immer noch so seltsam, dass Glaucous sich fragte, ob der alte Sammler zur Marionette geworden war – ein fremdgesteuertes Opfer, das jetzt auf Feindseligkeit programmiert war. Allerdings hatte Glaucous so etwas noch nie erlebt, kannte es nicht einmal vom Hörensagen. Doch wo die Bleiche Gebieterin ihre Hand im Spiel hatte, war nichts auszuschließen.
»Wie ist es Ihnen ergangen, mein Junge?«, fragte Whitlow, wobei sein Adamsapfel auf und ab hüpfte.
»Gut bis mittelprächtig. Und Ihnen, Sir?«
»Gestrüpp, Dornen und Nesseln. So viele von uns wurden abberufen, und trotzdem … sind wir noch da. Sind Sie mal wieder in der alten Heimat gewesen?«
»Schon seit Jahren nicht mehr. Soll inzwischen sehr zugebaut sein.«
»Unerträglich. Wir leben schon zu lange,
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