Die Stadt am Ende der Zeit
Kindergeschichten und Legenden über Bücher gab, dann musste doch irgendetwas hinter diesen verführerischen Buchrücken stecken, etwas Wahres und Echtes.«
Mit vorsichtigen Bewegungen hockte Grayne sich hin. In ihrer persönlichen Umgebung war ihr deutlicher anzumerken, unter welchen Schmerzen sie litt. Jebrassy fragte sich, ob er je das Alter erreichen würde, in dem er solche Schmerzen am eigenen Leib erfuhr. Sie ist die Älteste der alten Art, die ich je gesehen habe … Zum ersten Mal ertappte er sich bei dem Gedanken, dass der Besuch des Düsteren Aufsehers auch eine Gnade sein konnte und nicht unbedingt zu fürchten war.
»Ich habe es nicht als Erste entdeckt – dieses Buch, das sich zu unserer Verblüffung herauslösen ließ. Es war meine beste Freundin, die Klügste all meiner Schwestern, die stets neugierige Lassidin. Ein Leuchtfeuer unter den Flammen, wie ihr Männer das nennt. Für mich war sie wie ein Feuerwerk …« Grayne schloss die Augen. »Der Düstere Aufseher hat sie schon vor langer Zeit geholt. Sie war die Erste, die das Rätsel löste, indem sie in ihrer aufgeweckten Art alles in ihrer Umgebung genau beobachtete. Ständig hat sie Dinge gesehen, die uns gar nicht auffielen. Sie rannte an den Regalen entlang, sprang hoch, zerrte an den Büchern … und hatte schließlich Erfolg.«
Grayne streckte den Zeigefinger hoch, krümmte ihn und tat so, als hake sie ihn irgendwo fest. Noch einmal ließ sie diesen Moment an sich vorbeiziehen. »Lassidin griff nach einem Buchrücken, genau dem richtigen, und zog das Buch vor unseren Augen heraus. Davon war sie selbst so überrascht, dass sie hinfiel und auf dem Hintern landete. Das Buch schlug auf dem staubigen Boden auf und öffnete sich auf einer Seite, die mit Schriftzeichen eines uralten Alphabets übersät war. Einige Symbole kannten wir, aber die meisten sagten uns nichts. All meine Hortschwestern – insgesamt waren wir vier, denn damals waren die Familien oft größer als heute – bildeten einen Kreis um das Buch, betrachteten es, hatten aber Angst, es anzufassen. Zwei rannten sogar weg. Doch Lassidin und ich fanden irgendwie den Mut, das Buch in die Nische unserer Familie mitzunehmen, wo wir es vor unserer Mer und unserem Per verbargen. Anfangs erzählten wir niemandem davon. Als wir später zu der Stelle in den oberen Stockwerken zurückkehrten, wo Lassidin das Buch herausgeholt hatte, war die Lücke in der Bücherreihe schon wieder gestopft. Das Buch, das jetzt dort
stand, war genauso unecht und fest einzementiert wie alle anderen. Wir fragten uns, ob das alles nur ein Traum gewesen war, und gingen schnell zu unserer Nische zurück. Dort hatte Lassidin das Buch in der alten Kiste hier verstaut und mit einem Fingerabdruckschloss gesichert. Ein paar Schlaf-WachZyklen später stiegen wir erneut in die oberen Stockwerke hinauf. Mittlerweile hatte Lassidin das Rätsel der Bücherregale gelöst, und die Regale belohnten sie – uns – für Lassidins Klugheit. Es gelang uns, das zweite Buch herauszuziehen, dem viele weitere Bücher folgen sollten. Wir versteckten sie alle in der Kiste.«
»Wie viele waren es?«, fragte Tiadba.
Grayne spannte die Lippen und berührte die steifen Haare auf ihrer Nase. »Mehr als eins«, erwiderte sie mit schwachem Lächeln. »Und weniger als ein Dutzend.«
»Wer oder was hat die Bücher aus der Erstarrung gelöst? Warum hat man zugelassen, dass ihr sie in die Hände bekommt? «, fragte Jebrassy. »Ich hab immer gedacht, die Hochgewachsenen wollten uns in Unwissenheit halten.«
»Eine kluge Frage, die unser junger Krieger da aufwirft«, bemerkte Grayne. »Aber ich kann sie nicht beantworten. Gerüchten nach hat ein großer, mächtiger Bürger, der weit über den Hochgewachsenen steht, diese Bücherregale zu Ehren seiner längst verstorbenen oder verschollenen Tochter geschaffen. Vielleicht waren sie gar nicht für uns bestimmt. – Nun ja, irgendwann hat der Düstere Aufseher all meine Schwestern geholt, aber mich hat er ausgelassen.« Sie sah auf. »Also wurde ich zur Hüterin von Lassidins Kiste und aller Bücher, die wir geborgen haben – aller Bücher, die man uns zu finden erlaubte. «
Während Tiadba die erste Seite des grünen Buchs aufschlug, zog sie die Nase so hoch, dass sich feine Falten bildeten, und schob das Kinn vor. »Ich kann’s nicht lesen. Die Buchstaben sind ganz anders als unsere.«
»Sie sind alt. Aber einige kennen wir.«
Tiadba fuhr eine Zeile mit dem Zeigefinger nach. »Den hier
Weitere Kostenlose Bücher