Die Stadt am Ende der Zeit
sich so abgekühlt, dass Grayne zitterte. »Gehen wir.«
Die Nische der Sama war durchaus bescheiden. Sie hauste auf der tiefsten Ebene im Hauptblock der dritten Insel, innerhalb
einer Art Trägersäule, umgeben von uralten, stillgelegten Maschinen. Es waren unförmige dunkle Kolosse mit fugenloser harter Oberfläche, die nicht verrieten, wozu sie früher einmal gedient hatten. Auch die Einrichtung der Nische war sehr bescheiden. Sie bestand nur aus graubraunen Decken und Kissen, einer kleinen Kiste, in der die Sama ihre Nahrungsmittel aufbewahrte, und einer größeren, die mit einem Fingerabdruckschloss gesichert war.
Nachdem die Sama Jebrassy und Tiadba Wasser eingeschenkt hatte, setzten sie sich still hin und sahen zu, wie die Alte die Kiste berührte, aufmachte und …
… ein Buch herausholte. Ein echtes, grün eingebundenes Buch, das auf dem Rücken und vorderen Deckel beschriftet war. Es war das erste echte Buch – das erste unversehrte und herausnehmbare Buch –, das sie je zu Gesicht bekommen hatten.
Tiadba atmete so tief aus, als hätte ihr jemand einen Faustschlag in den Magen versetzt. Jebrassy hielt seinen Gesichtsausdruck streng unter Kontrolle, denn wieder einmal war ihm nicht klar, was diese beiden Frauen im Schilde führten – vielleicht nichts Gutes. Womöglich waren sie Köder einer Falle, die die Hochgewachsenen unwissenden jungen Kerlen stellten …
Seine Gedanken rasten und wurden ständig konfuser. Doch dann sah er Tiadba an und merkte, dass es ihr ähnlich ging.
Grayne drückte das Buch an die Brust und ging mit bedächtigen Schritten zu ihnen hinüber. »Ich liebe diese gefährlichen, unglaublichen Dinge mehr als alles andere in den Ebenen«, erklärte sie, streckte ihnen das Buch mit beiden Händen hin und schlug es so auf, dass sie hineinblicken konnten. »Ist es nicht zauberhaft?«
Jebrassy hätte es gern in die Hand genommen, wagte jedoch nicht, danach zu greifen. Der Buchdeckel war mit Blumen verziert, wie er sie auf ihren Feldern und Wiesen noch nie gesehen hatte. Sie umrankten ein Symbol, das seinen Blick sofort anzog: ein Kreuz, um das sich miteinander verflochtene, offenbar herumwirbelnde Bänder wanden.
Als Tiadba seinen Blick suchte, nickte er ihr zu. Dieses Symbol war beiden vertraut, obwohl sie es vorher noch nie gesehen hatten.
»Stammt das Buch aus den Regalen in den oberen Stockwerken? «, fragte Tiadba.
»Da oben gibt’s gar keine echten Bücher«, sagte Jebrassy. »Ich hab versucht, welche herauszuziehen. Aber die sind nur zur Zierde da.«
Grayne ließ zwei Finger über dem Buch kreisen, schürzte die Lippen, blies die Backen auf und ließ den Atem pustend entweichen. »Meilen über Meilen voll unerfüllbarer Verlockungen. Ist schon seltsam, dass wir Bücher instinktiv lieben, aber sie nicht besitzen oder lesen können. Wir können lediglich die Buchrücken anschauen, die in diese entsetzlichen, wunderbaren Regale einzementiert sind.« Feierlich legte sie das Buch auf einen kleinen Tisch, der zwischen ihnen stand. »Fasst es mal an. Es ist sehr alt und sehr robust. Hat seit vielen Tausend Generationen darauf gewartet, von Nutzen zu sein. Ihr könnt es gar nicht beschädigen.«
Tiadba hatte Tränen in den Augen, als sie das Buch anhob und an seinem Deckel schnupperte. »Kannst du es lesen?«, fragte sie Grayne.
Die Sama bejahte, indem sie einen Finger hob. »Einige von uns haben auch Seiten übersetzt. Viele Seiten.«
»Wie das?«, fragte Jebrassy.
Grayne strahlte. »Bei all den seltsamen Anweisungen und Pflichten, denen ich nachkommen muss, ist diese Tätigkeit mir am liebsten. Es steckt ein Geheimnis dahinter, ein so wunderbares Geheimnis, dass euch niemand glauben würde, solltet ihr es herumerzählen – versucht es also gar nicht erst. Früher einmal, als wir noch recht jung waren, haben meine Hortschwestern und ich ein Spiel erfunden. Wir kletterten zu den oberen Stockwerken hinauf und rannten zwischen diesen unglaublichen Regalen herum. Kichernd sprangen wir an ihnen hoch und zerrten an den Buchrücken, die sich nicht bewegen ließen. Nahmen uns die oberen Reihen vor, danach die unteren, eine nach der anderen, dann die mittleren … Zerrten stundenlang an diesen seltsamen, unnachgiebigen Büchern, lachten, hüpften hoch, scheiterten, fielen dabei hin und lachten noch lauter. Keiner dachte, wir würden damit je Erfolg haben. Doch nach Kinderart glaubten wir fest daran. Wenn wir uns so stark zu diesen Büchern hingezogen fühlten, wenn es so viele
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