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Die Stadt der gefallenen Engel

Die Stadt der gefallenen Engel

Titel: Die Stadt der gefallenen Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Wekwerth
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Handfläche gegen die Brust der Restaurantleiterin, die es von den Füßen riss und mehrere Meter entfernt zu Boden schleuderte. Ihr Kopf knallte gegen ein Stuhlbein und sie blieb regungslos liegen.
    Stimmen wurden laut. Schreie erklangen. Jemand rief nach der Polizei.
    Lara erwachte wie aus einem Tagtraum und starrte entsetzt auf die bewusstlose Frau hinab.
    Was habe ich getan?
    Wie konnte so etwas geschehen?
    Tränen der Verzweiflung stiegen in ihr auf. Ein Mann kam mit entschlossenem Gesichtsausdruck auf sie zu. Hände griffen nach ihr, aber Lara konnte sich mühelos befreien. Sie wirbelte herum, als die Menschen vor ihrer Berührung zurückzuckten, und rannte aus dem Restaurant. Hinaus in die verregnete Nacht.
     
    Der Engel, der Lara so auffällig angestarrt hatte, stand abseits des Restaurants an einer Straßenecke und blickte zum Eingang hinüber, als Lara zur Tür hinausstürmte. Er beobachtete, wie sie einen Moment unschlüssig verharrte, so als überlege sie, in welche Richtung sie gehen solle. Der Regen hatte zugenommen. Nemathan wusste, wer sie war. Jeder Engel in der Stadt wusste dies. Sie war ein besonderes Mädchen. Ein Mensch, der in den Fokus der Hölle geraten war, auch wenn er den Grund für dieses Interesse nicht kannte.
    Nemathan blickte sich um und stellte zufrieden fest, dass keine Dämonen in der Nähe waren. Das Mädchen war nicht in Gefahr, trotzdem wollte er Gabriel darüber informieren, dass Lara allein in der Nacht unterwegs war. Nemathan schloss die Augen.
     
    Lara rannte, ohne sich umzusehen. Sie rannte, ohne zu wissen, wohin. Als sie schließlich anhielt, war sie bereits in einem anderen Stadtteil. In der Straße, in der sie nun stand, reihte sich ein Restaurant an das andere. Vor Bars und Kneipen standen trotz des Regens Leute, die hastig eine Zigarette rauchten. Lara hatte Angst, sich ihnen zu nähern, Angst davor, dass wieder etwas in ihr die Kontrolle übernahm und sie Dinge tun ließ, die sie im tiefsten Grunde ihres Herzens verabscheute. Ihr Atem sandte kleine Wolken in die feuchte Luft. Sie fröstelte. Erschöpfung und Müdigkeit machten sich in ihr breit. Ratlos blickte sie die Straße entlang. Ohne Geld und ohne Telefon stand sie alleine mitten in einer fremden Stadt; einer Stadt, die ihr Leben für immer verändert hatte.
    Was hatte sie da eben bloß getan? Warum war sie auf die Frau losgegangen, die doch einfach nur ihren Job gemacht hatte? War sie womöglich sogar tot? Die Frau hatte so hilflos, so verletzt ausgesehen, als sie da am Boden lag.
    Ein Schauer durchlief Laras Körper, der nicht alleine von der abendlichen Kälte herrührte. Sie hatte sich benommen wie ein wildes, gefährliches Tier. Ein Tier, so schien es ihr, das zu allem fähig war. Erschrocken über diese Erkenntnis, rann eine einzelne Träne ihre Wange hinab. Ihre ganze Welt war in sich zusammengefallen. Alles, was gestern noch gegolten hatte, schien heute keine Bedeutung mehr zu haben. Und was mochte in der Zukunft auf sie warten?
    Gestern war ich noch Lara. Und heute? Heute bin ich …
    Und plötzlich verstand Lara. Einzelne Informationen und Gedankenfragmente fügten sich wie Puzzleteile ineinander und ließen ein klares Bild vor ihren Augen entstehen. Ein Bild, in dessen Mitte ihr Vater stand. Laras Herz schien einen Schlag lang auszusetzen, als sie begriff, was mit ihr geschah. Die Erkenntnis durchzuckte sie wie ein Blitz.
    Sie war nur zur Hälfte menschlich. Der andere Teil in ihr war böse. Ihr Vater war ein Diener der Hölle und sie würde so werden wie er. Das Böse in ihr würde siegen und das Gute auslöschen.
    Lara stockte der Atem.
    Sie war ein Monster.
     
    Der Regen hatte zugenommen und drang nun auch unter das Vordach, unter dem Lara Schutz gesucht hatte. In ihr war eine große dumpfe Leere. Wie ein dicker Nebel umfingen Lara ihre Gedanken. Alles, von dem sie geglaubt hatte, dass es ihrem Leben Sinn verlieh, schien nicht mehr zu existieren. Ihre Freunde zu Hause waren weit weg. Ihre Großeltern hatten sie belogen und ihre Mutter in ihre dunklen Machenschaften verstrickt. Und Damian hatte sie ebenso bitter enttäuscht wie Ben.
    Doch das Schlimmste war, dass sie sich in ein Monster verwandeln würde. Ein Monster, das seinem eigenen Willen gehorchte und über das sie keinerlei Kontrolle besaß. Das, was sie bisher ohne ihr eigenes Zutun getan hatte, war sicherlich nur eine erste Stufe zu etwas Ungeheuerlichem, das gerade dabei war, sich in ihr Bahn zu brechen. Das konnte und durfte sie nicht

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