Die Stadt der gefallenen Engel
ein Vater tun sollte. Das konnte ich ihm nicht verzeihen und das werde ich ihm auch niemals verzeihen.«
Das eintretende Schweigen lastete schwer auf ihnen, bis Lara schließlich ohne ein weiteres Wort die Verbindung unterbrach.
20.
Lara lag auf dem Bett und weinte. Sie hatte ihr Gesicht im Kissen vergraben. Immer wieder durchlief ein Zittern ihren Körper, dann hatte sie das Gefühl, ersticken zu müssen, und machte sich mit einem lauten Schluchzen Luft.
All der Zorn, all die Wut waren einer tiefen Traurigkeit gewichen, die sie überwältigte. Sie weinte, weil sie nie die Liebe eines Vaters kennengelernt hatte, und sie weinte darüber, all die Jahre gehofft zu haben, ihr Vater würde eines Tages vor ihr stehen und sie in die Arm schließen. Sie hatte sich niemals als vollständiger Mensch gefühlt, etwas in ihr hatte gefehlt, so wie ein Puzzle, das zwar ein Bild ergab, aber dessen fehlende Teile leere Flecken hinterließen. Diese Flecken waren in ihre Seele eingebrannt, und nachdem sie nun wusste, ihr Vater hatte sie vom ersten Moment an abgelehnt, spürte sie auch, dass es für sie keine Vollständigkeit geben konnte.
Wie kann man das eigene Kind nicht lieb haben?
Diese Frage war so überwältigend, wie die Antwort banal war – ihrem Vater fehlte offensichtlich ebenfalls etwas. Ihm fehlte die Fähigkeit, selbstlos zu lieben, und dieser Gedanke gab Lara Trost, linderte den Schmerz ein wenig.
Ihre Gedanken wanderten zu ihrer Mutter. Wie musste sich ihre Mutter damals im Moment ihrer größten Freude gefühlt haben, als sie erkannte, dass der Mann, den sie liebte, diese Freude nicht teilte, dass er nicht einmal seine Enttäuschung darüber verbergen konnte, dass es kein Sohn geworden war?
Es muss schlimm für sie gewesen sein, dachte Laura. Und sie muss gespürt haben, dass sie allein ist und es wahrscheinlich auch bleiben würde. Ein ganzer Ozean verlorener Träume …
Lara wischte sich die Tränen von den Wangen, stand auf und ging zum Fenster. Erschöpft lehnte sie ihre Stirn gegen das kühle Glas. Die Kälte schien sich in ihrem ganzen Körper auszubreiten.
… und dennoch hätte sie mir die Wahrheit sagen müssen.
Rachel Winter ging unruhig im Zimmer auf und ab. Sie hatte keinen Blick für den Sonnenschein, der durch die hohen, geöffneten Fenster in die Wohnung fiel, und sie hörte nicht den Gesang des Windes, der leise ums Haus strich. Ihre Gedanken waren bei Lara.
Habe ich einen Fehler gemacht?, fragte sie sich zum unzähligsten Mal. Hätte ich schweigen sollen, hätte ich die Wahrheit noch länger zurückhalten sollen?
»Vor der Wahrheit gibt es keinen Schutz«, hatte Lara gesagt und nicht geahnt, wie recht sie damit hatte.
Noch heute, nach so vielen Jahren, schmerzte die Wahrheit. Die Wahrheit, dass sie sich in diesem Mann getäuscht hatte, dass er weder sie noch die gemeinsame Tochter wirklich lieben konnte.
Er war gegangen. Und niemand wusste, wohin.
Kein Wort des Abschieds. Keine Nachricht von ihm. Er war so spurlos verschwunden, wie er gekommen war. Er hatte ihr Leben für immer verändert – aber er hatte ihr auch ein wunderbares Geschenk gemacht.
Lara.
Rachel ging zur Kommode und griff nach der Zigarettenschachtel, die darauf lag. Mit fahrigen Fingern zog sie eine Zigarette heraus und zündete sie an. Der Rauch schmeckte bitter, aber das Ritual beruhigte sie ein wenig.
Ihre Gedanken wanderten zum Gespräch mit ihrer Tochter zurück. Lara würde Zeit brauchen, die Wahrheit über ihren Vater zu verarbeiten, aber da war noch etwas anderes, das Rachel beunruhigte.
Wer war dieser Damian?
Sie nahm ihren Gang durchs Wohnzimmer wieder auf.
Eigentlich sollte ich mich darüber freuen, dass Lara jemanden kennengelernt hat. Jemand, der ihr hilft, über Ben hinwegzukommen.
Aber da war dieses merkwürdige Gefühl, das gleich einer Spinne über ihre Seele krabbelte und ein Netz aus Fragen wob. Woher kam dieser Damian so plötzlich? Er studierte Geschichte an derselben Universität, an der ihr Vater früher unterrichtet hatte. Hatte er ihn mit nach Hause gebracht und ihn Lara vorgestellt?
Sie erinnerte sich noch gut an den Tag, als ihr Vater ihr Michael vorgestellt hatte.
»Hallo, Rachel, ich möchte, dass du jemanden kennenlernst. Das ist Michael Winter, einer meiner besten Studenten. Er hat sich bereit erklärt, dir bei den Prüfungsvorbereitungen zu helfen. «
»Papa, ich brauche keine …«
Dann hatte sie dem fremden jungen Mann in die Augen gesehen und ein Schauer war durch ihren
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