Die Stadt der gefallenen Engel
Treppengeländer und schloss für einen Moment die Augen.
»Na ja, unser Verhältnis war nicht immer so«, begann ihre Mutter zögerlich. »Deine Großeltern waren gute Eltern. Es begann nach deiner Geburt, bis dahin war alles in bester Ordnung. Ich und dein Vater wohnten während unserer kurzen Ehe und der Schwangerschaft im Haus deiner Großeltern und sie bemutterten mich von früh bis spät, kümmerten sich um mich und erfüllten mir jeden Wunsch. Dein Vater war oft nicht da und ich war dankbar, nicht allein zu sein. Als der große Tag kam, waren alle ganz aufgeregt. Meine Mutter hatte mich von einer Hausgeburt überzeugt und so waren nur sie, Großvater, dein Vater und eine Hebamme im Haus, als es so weit war. Die Wehen kamen in kurzen Abständen und waren ziemlich heftig, aber die Geburt dauerte nicht allzu lang. Du kamst auf die Welt und hast sofort das ganze Haus zusammengebrüllt.«
Lara lächelte.
»Ich war so glücklich. Ein gesundes, hübsches Mädchen und ich habe dich vom ersten Moment an geliebt.« Sie schwieg, scheinbar verloren in Raum und Zeit.
»Mama?«, fragte Lara zaghaft.
»Die Hebamme hat dich gewaschen und mir in den Arm gelegt. Deine Großmutter ging hinaus, um deinen Vater und deinen Opa zu holen. Ich hatte erwartet, dass sie sofort ins Zimmer stürmen würden, aber sie ließen sich Zeit und ich hörte, wie sie sich leise im Flur unterhielten. Ich fand das merkwürdig, war aber zu erschöpft und zu glücklich, um mir darüber Gedanken zu machen. Nach ein paar Minuten kamen sie dann.« Der letzte Satz klang bitter. »Dein Vater trat ans Bett und küsste mich. Er flüsterte mir zu, ich habe das prima gemacht, dann nahm er dich auf den Arm und betrachtete dich lange. Er wirkte sehr ernst dabei und ich fragte ihn, ob er nicht glücklich sei. Er sagte, ja, das sei er, sehr sogar, und er lächelte, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er enttäuscht war.«
Lara fühlte einen Stich in ihrem Herzen und ihre Augen brannten heiß. Sie hatte es immer geahnt und nun wurde aus dieser Ahnung Gewissheit. Ihr Vater hatte ihre Mutter wegen ihr verlassen. Eine einzelne Träne lief ihre Wange hinab. Lara biss sich fest auf die Lippen, um nicht schreien zu müssen. Die Stimme ihrer Mutter erklang wie aus weiter Ferne.
»Ich weiß, was du jetzt fühlst und was du denkst, und vielleicht hast du auch recht. Dein Vater und ich hatten oft darüber gesprochen. Ich wusste, dass er sich von ganzem Herzen einen Sohn wünschte. Aber ich hoffte, dass alles gut werden würde, wenn er dich erst einmal sah, wenn er dich in seinen Armen hielt.« Laras Mutter schluckte. »Aber diese Hoffnung hat sich leider nicht erfüllt«, flüsterte sie.
»Was ist dann geschehen?«, fragte Lara und versuchte, ihre Stimme fest klingen zu lassen.
Ihre Mutter weinte. Sie konnte es deutlich hören, obwohl sie sich alle Mühe gab, es zu verbergen. »Er küsste dich auf die Stirn und legte dich in meinen Arm zurück. Dann verließ er das Zimmer. Seit dieser Nacht habe ich ihn nicht wiedergesehen.«
Lara schwieg. Sie hörte das Ticken der Küchenuhr, zählte stumm die Sekunden, die verrannen. Und sie spürte, wie mit jedem Zeigerschlag wieder diese unbändige Wut in ihr aufstieg, die sie schon am Nachmittag in der Stadt überfallen hatte. »Warum test du mir das nie erzählt? Warum hast du mir nie die Wahrheit gesagt?«, zischte sie schließlich ins Telefon.
»Ich … ich wollte es. Aber irgendwie war nie der richtige Zeitpunkt, nie der richtige Moment. Ich dachte …«
»Was?«, brüllte Lara ungehalten. »Was dachtest du? Dass es einfacher wäre, wenn ich größer bin?«
»Ja. Ich bin deine Mutter und ich wollte dich schützen.«
»Vor der Wahrheit gibt es keinen Schutz, Mutter. Das solltest du wissen. Sie holt einen immer ein.«
»Das habe ich gerade erfahren.«
»Sonst noch was?«, fragte Lara mit eisiger Stimme. »Gibt es sonst noch etwas, das du mir nicht erzählt hast, weil du mich schützen wolltest?«
»Ja. Deine Großeltern … sie … sie warfen mir vor, ich hätte deinen Vater aus dem Haus getrieben. Sie meinten, wenn ich ihm die Zeit gegeben hätte, seine Enttäuschung zu verarbeiten, hätte aus uns eine glückliche Familie werden können. Sie sagten, ich hätte alles zerstört und es sei meine Schuld, dass du ohne Vater aufwachsen musstest.«
»Und, war es deine Schuld?«
»Nein!« Die Stimme ihrer Mutter war voller Zorn. »Er hat dich – mein Kind, unser Kind – nicht angenommen, es nicht so geliebt, wie es
Weitere Kostenlose Bücher