Die Stadt der gefallenen Engel
verlieh. »Sag ihm bitte, dass ich mich nicht wohlfühle und heute Abend nicht aus dem Haus möchte.«
»Oh nein, junge Dame«, erwiderte ihre Großmutter. Trotz der geschlossenen Tür konnte Lara die Strenge und Unnachgiebigkeit in ihrer Stimme hören. »Das wirst du schön selbst tun.«
»Ich will ihn aber nicht sehen und auch nicht mit ihm reden. Oma, bitte!«
»Nein, und damit Schluss. Entweder du sagst mir jetzt, was mit dir los ist und warum du dich im Zimmer einschließt, oder du kannst zusehen, wie du allein zurechtkommst.«
Kurz darauf hörte Lara, wie ihre Großmutter wütend die Treppe hinunterstapfte.
Etwas später vernahm Lara das Läuten der Türklingel und gleich darauf die Stimme ihrer Großmutter. Was gesprochen wurde, verstand sie nicht.
Dann klopfte es leise an ihre Tür.
»Lara?«
Der Klang seiner sanften Stimme ging ihr durch Mark und Bein.
»Kann ich mit dir sprechen?«
»Im Augenblick ist mir nicht nach Reden.« Lara fühlte sich leer. Und doch wirbelten so viele Gedanken durch ihren Kopf und auch ihre Gefühle schienen Achterbahn zu fahren.
»Okay, aber wenn es dir nichts ausmacht, bleibe ich noch ein wenig hier.«
»Warum?«, fragte Lara erstaunt.
»Du sollst wissen, dass ich für dich da bin, wenn es dir nicht gut geht.«
Laras Herz begann, schneller zu schlagen, aber trotz seiner lieben Worte wollte sie Damian heute nicht sehen. Sie brauchte Zeit, um ihre Gedanken und ihre Gefühle zu ordnen.
Sie schwiegen und dieses Schweigen gab Lara mehr als tausend tröstende Worte. Schließlich setzte sie sich mit dem Rücken zur Tür auf den Boden. Sie spürte, dass er sich auf der anderen Seite ebenfalls gegen die Tür lehnte.
»Damian?«
»Ja.«
»Wurdest du schon mal von jemandem enttäuscht, den du sehr liebst?«
Eine Weile verging, dann sprach er. Leise und eindringlich und Lara hörte den Schmerz hinter seinen Worten.
»Ich hatte einen Freund. Nein, nicht nur einen Freund. Er war mehr als das, er war wie ein Bruder für mich und ich vertraute ihm vollkommen. In meiner bedingungslosen Liebe zu ihm bemerkte ich nicht, wie er sich veränderte. Ich sah die Warnzeichen, aber ich reagierte nicht und dann war es zu spät. Er beging einen ungeheuerlichen Verrat, von dem es kein Zurück mehr gab.«
Stille.
»Wen hat er verraten? Dich?«
»Sich selbst. Uns alle.«
Lara zögerte. »Mehr willst du nicht dazu sagen?«
»Nein, denn mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Wie ist es bei dir? Willst du darüber reden?«
Will ich darüber reden? Würde das den Schmerz in ihrem Inneren lindern?
»Es geht um meinen Vater.«
Er schwieg und sie spürte, dass er ihr die Zeit geben wollte, die richtigen Worte zu finden.
»Ich habe heute mit meiner Mutter telefoniert und sie hat mir endlich die Wahrheit über ihn gesagt.« Lara holte tief Luft. »Mein Vater wünschte sich einen Sohn. Als er eine Tochter bekam, konnte er seine Enttäuschung nicht verbergen – und meine Mutter verzieh ihm nicht, dass er es nicht konnte.«
»Es muss wehgetan haben, das zu hören.«
»Das hat es. Nicht nur, dass ich ohne Vater aufgewachsen bin, letztendlich bin ich auch der Grund dafür, dass er gegangen ist.«
»Nein, ich denke, in diesem Punkt hast du unrecht.«
»Warum sagst du das?«
Sie konnte sein Lächeln fast sehen. »Jeder Mann, der eine Tochter wie dich bekommt, sollte glücklich sein. Wenn er dieses Glück nicht empfindet, ist etwas in ihm zerbrochen. Das ist nicht deine Schuld.«
»Danke, dass du das sagst.«
»Lara?«
»Ja?«
»Ich würde dich jetzt gern spüren.«
Sie erhob sich und stellte sich mit dem Gesicht zur Tür.
»Leg deine Hand auf das Holz.« Sie hörte seine Kleidung rascheln, als er aufstand.
»Meine Hand ist da.«
»Meine auch. Fühlst du es?«
»Ja, ich kann dich spüren.«
Es war ein besonderer Moment. Lara fühlte es. Tief in ihr drin war die Gewissheit, dass sie diesen Augenblick nicht einfach so vergehen lassen durfte. Sie holte tief Luft und öffnete langsam die Tür.
Da stand er. Ruhig sah er sie an.
Lara fasste zögerlich nach seiner Hand, nahm sie in die ihre. »Es geht mir besser«, sagte sie. »Vielleicht tut mir ein wenig Ablenkung auch ganz gut. Also, wenn du noch möchtest, können wir los.«
»Bist du dir sicher?«
»Ja. Ich ziehe mich nur kurz um, dann können wir gehen.«
Er lächelte. »Berlin wartet auf dich.«
22.
Die Bar, von der Damian erzählt hatte, befand sich in der Schönhauser Allee. Last Cathedral stand in großer gotischer Schrift
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