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Die Stadt der gefallenen Engel

Die Stadt der gefallenen Engel

Titel: Die Stadt der gefallenen Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Wekwerth
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verzerrt, der Mund zum stummen Schrei aufgerissen. Ihre Mutter brüllte vor Schmerz oder Angst – oder war es etwas anders? Hunger? Durst? Kleine Kinder schrien häufig und nicht immer war eine Ursache für ihr Unwohlsein auszumachen.
    Als Nächstes nahm Lara die Hand, oder besser gesagt, den Zeigefinger der linken Hand ihres Großvaters wahr. Er zeigte damit auf die Hand seiner kleinen Tochter. Auf dem alten Foto hatte es so ausgesehen, als hielte er die Hand des Kindes, doch nun war deutlich zu erkennen, dass er auf etwas deutete.
    »Kann man das hier vergrößern?«, fragte Lara, erhob sich und zeigte auf die Stelle, die sie meinte.
    »Klar, kein Problem.«
    Einen Doppelklick später nahm der Ausschnitt fast den gesamten Bildschirm ein.
    Lara schluckte schwer. Ihr wurde schwindelig. Mit einem Stöhnen ließ sie sich zurück auf den Stuhl fallen. Die Rollen des Drehstuhls ächzten unter der Belastung auf. Es klang, als ob ein Tier gequält würde. Westermann sah sie überrascht und etwas besorgt an.
    »Ist alles okay mit dir?«
    Lara riss sich zusammen. Der Fotograf durfte ihr nichts anmerken. »Ein bisschen komisch im Bauch«, murmelte sie. »Hast du vielleicht was zu trinken für mich?«
    Westermann erhob sich und ging in einen Nebenraum – anscheinend eine kleine Küche, denn sie hörte, wie er eine Schranktür öffnete. Kurz darauf klirrte etwas.
    »Verdammt!«, drang es ins Atelier hinaus. »Ich habe ein Glas fallen lassen. Ich kehre nur kurz die Splitter auf, dann bin ich wieder bei dir. Kannst du noch so lange warten?«
    »Sicher«, rief Lara zurück. »Mir geht es schon wieder besser. Lass dir Zeit.«
    Der Vorfall gab ihr die Gelegenheit, das Foto noch eindringlicher zu studieren. Sie wollte sicher sein.
    Fünf Sekunden später war sie sich sicher.
    Was sie ursprünglich für einen Schatten auf der Kinderhand gehalten hatte, stellte sich jetzt als ein Gegenstand heraus.
    Es war ein Ring.
    Rachel trug einen Ring an der linken Hand. Doch es war nicht ein Ring, wie man ihn mittlerweile häufig zur Taufe verschenkte – kleine Schmuckstücke in Gold, in die oft der Name des Kindes eingraviert war. Nein, dieser Ring war schwer und ganz offensichtlich zu groß; er rutschte fast von dem kleinen Finger.
    In den Ring war ein Edelstein eingelassen. Lara musste nicht raten, um welchen es sich dabei handelte. Es war ohne Zweifel ein Rubin in einer massiven, aufwendigen Goldfassung.
    Sie kannte den Ring.
    Sie hatte ihn schon ein Mal gesehen. Und sie würde ihn nie wieder vergessen. Weil es das einzige Mal gewesen war, dass ihre Mutter ihr den Ring gezeigt hatte. Er sei ein Symbol für ein Leben, das hinter ihr liege, hatte sie gesagt.
    Es war Rachels Verlobungsring.

55.
    Max fluchte und fluchte und fluchte. Seit zehn Minuten versuchte er, Fischer zu erreichen, aber die Leitung der Buchhandlung war permanent besetzt. Entweder der Alte hatte den Hörer seines altmodischen Telefons nicht richtig aufgelegt oder sein Enkelsohn telefonierte die ganze Zeit.
    Frustriert steckte er sein Handy in die Jackentasche und dachte fieberhaft nach. Was sollte er jetzt tun? Weiterhin herumstehen und versuchen, den alten Mann telefonisch zu erreichen, oder persönlich in der Buchhandlung nachfragen, ob Lara da gewesen war und Fragen zu der Fotografie gestellt hatte?
    Eigentlich hatte er keine Wahl, denn er konnte es sich nicht leisten, noch mehr Zeit mit dem sinnlosen Versuch zu verschwenden, Fischer ans Telefon zu bekommen.
    Aus dem Café winkte ihm sein früherer Kollege freundlich zu. Max winkte zurück und bedeutete per Handzeichen, dass er dringend fortmusste. Baumgärtner lächelte, reckte den Daumen hoch und widmete sich wieder seinem Espresso.
    In der Fensterfront spiegelte sich sein Gesicht. Max erschrak. Bleich und mit eingefallenen Wangen starrte ihm sein Abbild entgegen. Er bleckte die Lippen zu einem verzweifelten Grinsen, aber das machte die Sache nur noch schlimmer. Jetzt sah es aus, als starre ihn ein Totenschädel an. Schaudernd wandte er sich ab und ging auf der Suche nach einem Taxi die Straße entlang.
    All die Jahre hatte er ein gutes Leben gehabt. Mehr als das.
    Er hatte Dinge für sich verlangt, die ihm niemals zugestanden hatten. Nun war es an der Zeit, den Preis dafür zu bezahlen.
    Lara ahnte von alldem nichts. Aber sie sollte nicht für seine Sünden büßen.
     
    Asiszaar ließ die Gartenanlagen hinter sich und schritt mit weit ausholenden Schritten durch einen Vorort der Stadt. Sein erster Versuch, zu dem

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