Die Stadt der Heiligen (German Edition)
nicht.»
«Wo ist er hingegangen, sagtest du?» Jolánda legte die Haube zusammen und griff nach einem Paar Strümpfe, die an den Fersen geflickt werden mussten. Ihre Augen funkelten herausfordernd.
«Auf den Parvisch. Er will mit den Kanonikern einen Vertrag machen, damit er eine der besseren Nischen am Dom für seinen Verkaufsstand während der Heiltumsweisung bekommt. Die Kirmes beginnt in acht Tagen, und die Platzverteilung ist noch immer nicht geregelt. Danach geht er vermutlich noch ins Zunfthaus.»
«Also wird er vor dem Abend nicht zurück sein», schloss Jolánda mit einem Zwinkern. «Warum gehen wir nicht hinaus in den Hof und setzen uns ein wenig in die Laube? Es ist sonnig und warm, und ein wenig Gesang mit Lautenbegleitung wird dort unten doch niemanden stören, oder?»
«Vermutlich nicht.» Ermutigt stand Marysa auf und streckte sich. Ihr Nacken schmerzte nach der Stunde, die sie sich konzentriert über ihre Handarbeit gebeugt hatte. Auch ihre Mutter erhob sich und legte der Tochter einen Arm um die Taille. Die beiden Frauen ähnelten einander sehr. Marysa hatte die grazile Gestalt, das herzförmige Gesicht und die kastanienbraunen Locken ihrer ungarischen Mutter geerbt. Ebenso das kleine Grübchen neben dem linken Mundwinkel und die katzenhaft grünen Augen. Dennoch wirkte Marysa in allem etwas herber und kantiger. Ein Umstand, den sie manchmal bedauerte, der sie jedoch täglich daran erinnerte, dass sie auch ihres Vaters Tochter war.
Gotthold Schrenger, der bekannteste Schreinbauer und Reliquienhändler Aachens, war nun schon seit einem Jahr tot, und noch immer vermisste Marysa ihn schmerzlich. So streng er sich zuweilen auch gegeben hatte, in seinem Haus hatten Lachen, Geselligkeit und Musik das Leben bestimmt. Nun war sie verheiratet mit einem Mann, der all das verabscheute.
Marysa lehnte sich kurz gegen ihre Mutter, dann ging sie zur Tür und rief nach der jungen Magd Imela. «Hol mir die Laute aus meiner Schlafkammer», trug sie ihr auf. «Und bring sie hinunter in den Hof.»
Imela, gerade vierzehn Jahre alt, hellblond und so schmal und schüchtern, dass man sie leicht übersah, nickte eifrig und huschte hinauf ins Obergeschoss.
***
Mit dem Ärmel seines weißen Dominikanerhabits wischte Christophorus sich über den schweißnassen Nacken. Die Julisonne brannte jetzt, am frühen Nachmittag, unbarmherzig auf die Stadt nieder. An einer Viehtränke am Rand des Marktplatzes blieb er stehen und ließ sein treues Maultier in Ruhe Wasser trinken. Er befand sich nicht allzu weit vom Ordenshaus der Dominikaner in der St. Jakobstraße entfernt und überlegte, ob er sich dort einquartieren sollte. Andererseits lockten ihn der Trubel und das Gewimmel der vielen Menschen in den Straßen und Gassen Aachens. Seit er die Stadt durch das Ponttor betreten hatte, war er nur noch sehr langsam vorangekommen. Obwohl es noch acht Tage bis zum Beginn der Kirmes – des Kirchweihfestes – waren, hatten sich bereits unzählige, ja Tausende Pilger eingefunden. Die Felder und Wiesen vor den Stadttoren und die Vororte hatten sich in ein riesiges Zeltlager verwandelt. Es fehlten nur die Waffen, und man hätte vermuten können, Aachen stände unter einer feindlichen Belagerung.
Innerhalb der Stadtmauern drängten sich die Menschen, es herrschte eine unvorstellbare Enge. Zelte und notdürftige Unterkünfte säumten die Gassen und Straßen beinahe allerorten; die Herbergen waren jetzt schon drei- oder vierfach belegt. Estella, die kleine Akrobatin aus der Gauklertruppe, mit der er die vergangenen Monate hierhergereist war, hatte ihm erzählt, dass sogar die Krankenhospitäler Schlafplätze bereitstellten und die Nahrungsmittel für die Menschenmassen von weit her aus dem Umland herbeigeschafft werden mussten.
Sosehr er es auch versuchte, er konnte sich nicht mehr erinnern, ob die Stadt bei seinem letzten Besuch vor einundzwanzig Jahren auch so überfüllt gewesen war. Aber als Kind nahm man solche Dinge wohl auch ganz anders wahr.
Christophorus trat beiseite, als zwei Abortkehrer einen vollbeladenen Mistwagen an ihm vorbeischoben, und wäre beinahe über ein umgekipptes Weinfass gestolpert, in dem sich ein junger Mann im Pilgermantel zum Schlafen zusammengerollt hatte. Der Gestank, der dem Mistkarren nachwehte, zerrte an Christophorus’ Magen. Nachdem das Maultier seine Nase aus der Tränke gehoben hatte, packte er die Leine fester und ging neugierig auf das imposante Rathaus zu. Einen solchen Bau hatte er selten
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