Die Stadt der Heiligen (German Edition)
willen, wer ist das?» Marysa drängte sich wieder vor, und diesmal gelang es ihr, einen Zipfel der Decke anzuheben und vom Gesicht des Toten zu ziehen.
«Oh!» Erschrocken wich sie zurück und bekreuzigte sich, als sie den schmächtigen jungen Mann erkannte. Sein Kopf war seitlich verdreht, sodass man eine klaffende Wunde am Hinterkopf erkennen konnte, aus der wohl reichlich Blut geflossen war, da sein Nacken und die Ränder seines Wamses dunkelrot verfärbt waren. «Was ist mit ihm geschehen?»
Nun schob sich auch Christophorus nach vorne, der zunächst an der Tür gewartet hatte. «Wer ist das?»
Sie drehte sich nur kurz zu ihm um. «Klas. Unser … der Geselle meines Gemahls.»
Reinold schob sie erneut beiseite. «Geh ins Haus, Weib.» Doch da sie keine Anstalten machte, sich zu bewegen, erklärte er: «Einer der Kanoniker hat ihn im Dom gefunden. Offenbar wurde er mit einem Eisenhaken erschlagen … direkt vor dem Marienschrein.»
«O Gott, im Dom?» Marysa schlug entsetzt eine Hand vor den Mund. Die Nachbarn, die sich um sie herum versammelt hatten, tuschelten mit betretenen Gesichtern.
Einer der Kanoniker, die Reinold begleitet hatten, räusperte sich vernehmlich. «Wir müssen die Umstände seines Todes untersuchen. Da er im Dom, also auf dem Gelände der Immunität, erschlagen wurde, sind wir dafür zuständig.»
«Halt!» Der Büttel, ein vierschrötiger bärtiger Mann, kam näher und schüttelte den Kopf. «Der Tote ist kein Mitglied der Immunität und wohnt auch nicht dort. Also ist der Vogtmeier zuständig.»
Der Kanoniker wedelte ungehalten mit den Händen. «Das werden wir ja sehen. Wir haben jedenfalls alles, was er bei sich trug, vorsorglich an uns genommen. Eine Beerdigung kann erst stattfinden, wenn wir …»
«Was soll das heißen, Ihr habt seine Sachen?», mischte sich der Büttel erneut ein. «Die müsst Ihr uns sofort übergeben. Und es muss jeder befragt werden, der sich zuletzt im und am Dom aufgehalten hat. Vielleicht gibt es ja Zeugen.»
«Ich weiß selbst, wie in einem solchen Falle vorzugehen ist», schnauzte der Kanoniker den Büttel an. «Wisst Ihr eigentlich, was Euch blüht, wenn Ihr der Immunität nicht gestattet, auf ihrem eigenen Grund und Boden für Recht und Ordnung zu sorgen? In acht Tagen beginnt die Kirmes mit der Heiltumsweisung. Dieser Mann», er deutete auf Klas, «wurde im allerheiligsten Dom zu Aachen ermordet! Wenn wir nicht binnen kürzester Zeit für Aufklärung sorgen, kann die Heiltumsweisung nicht stattfinden. Der Dom wurde entweiht!»
Das Raunen unter den umstehenden Leuten wurde lauter.
Ein zweiter Kanoniker trat vor. Er war älter als der erste, graumeliertes Haar umrandete ein schwammiges Gesicht. Ihn kannte Marysa. Sein Name war Johann Scheiffart. «Immer mit der Ruhe, Martin. Wir werden den Propst und den Bischof auf dem schnellsten Wege benachrichtigen.» Er blickte in die Runde, und es war klar, dass er ein Mann mit großer Autorität war. In ruhigem und durchaus freundlichem Ton fuhr er fort: «Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass diese Leute durch den Tod ihres Gesellen einen schlimmen Verlust erlitten haben, und sollten ihnen in ihrer schweren Stunde mit all unserer Liebe und Kraft beistehen.» Wohlwollend nickte er Reinold und Marysa zu und ließ dann seinen Blick kurz über das inzwischen vollständig versammelte Hausgesinde wandern. «Wir schicken Euch Vater Ignatius zu Eurem geistlichen Beistand. Er wird die Totenwache übernehmen.» Den anderen Kanonikern gab er ein kurzes Zeichen. «Was die Untersuchung dieses Vorfalls angeht, so wird die Immunität selbstverständlich den Vogtmeier informieren. So kurz vor der Kirmes und der bevorstehenden Heiltumsweisung wollen wir keinen Streit mit dem Stadtrat.» Er nickte noch einmal kurz in die Runde. «Gottes Segen sei mit Euch.» Dann wandte er sich ab und ging davon, gefolgt von den anderen Kanonikern.
«Tragen wir ihn hinein», beschloss Reinold und strich sich das vom Schweiß feuchte kragenlange blonde Haar zurück.
Gemeinsam mit dem Büttel brachten sie den Toten hinauf in seine Kammer; was wegen der schmalen Treppe, die ins Obergeschoss führte, gar nicht so einfach war. Marysa wies die Mägde an, alles für die Totenwache vorzubereiten, und schickte Grimold los, zwei Beginen aus dem Beginenwinkel in der Pontstraße zu holen, die den Leichnam waschen sollten. Als sie sich umdrehte, um nach unten zu gehen und eine Kerze zu holen, wäre sie beinahe mit Christophorus
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