Die Stadt der Heiligen (German Edition)
fünf Jahre alt gewesen, sein zweiter Besuch in Aachen lag nun etwa vier Jahre zurück. Er war ein sehr ruhiger und besonnener Mann. Belesen und intelligent, jedoch auch um einiges strenger als ihr Vater. Solange er bei ihnen gewesen war, hatte er von ihr stets unbedingten Gehorsam gefordert. Dennoch hatte sie ihn gemocht, da sie spürte, dass er unter der harten Schale ein gerechter Mann war, der seine Familie liebte. Als er bemerkt hatte, dass sie sich für die Geschäfte ihres Vaters interessierte, hatte er ihr zum Abschied einen Abakus geschenkt. Die runden Calculi, die Rechensteine, waren aus schwarzen und grünen Halbedelsteinen gefertigt, die das Rechenbrett zu einer wertvollen und wunderschönen Kostbarkeit machten. Doch es lag, wie all ihre anderen Schätze, in ihrer Truhe versteckt, da sie es seit ihres Vaters Tod nicht mehr benutzen durfte.
Nein, ihren Großvater würde sie auf gar keinen Fall behelligen. Und die anderen Kaufmänner?
Marysa stützte den Kopf auf ihre Hände und starrte auf die Platte des Schreibpults. Einen Brief aufsetzen musste sie. Reinold würde ihn lesen wollen. Aber sie konnte dafür sorgen, dass er nicht gleich abgeschickt wurde. Sie würde etwas Zeit brauchen, um Reinold von seinen Plänen abzubringen. Falls er sich wundern sollte, weshalb keiner der Kaufmänner ihm antwortete, würde sie es auf langsame Boten schieben oder ihm erzählen, dass die Briefe vielleicht verschwunden waren. So etwas kam vor.
Sie hasste es, lügen zu müssen. Sie war nicht besonders gut darin, das wusste sie. Vielleicht gab es einen anderen Weg.
Das Pochen an der Haustür ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken. Sie hörte Grimold durch den Korridor in die Werkstatt gehen und Augenblicke später die Stimme ihres Schwiegervaters.
«Was soll das heißen, er ist nicht hier? Wo treibt er sich denn schon wieder herum? Ich habe hier einen Auftrag, den ich nicht annehmen kann, weil wir das Werkzeug für so kleine Reliquiare nicht haben.»
Marysa stand rasch auf und ging in die Werkstatt.
«Guten Morgen, Meister Enno.»
«Ah, wenigstens du bist zu Hause.» Enno lächelte ihr wohlwollend zu. «Warum ist Reinold nicht an der Arbeit?»
Marysa zögerte, dann fasste sie beherzt einen Entschluss. «Er ist losgegangen, sich in der Stadt umzuhören.»
«Umzuhören? Was soll das heißen?» Enno hob neugierig die Brauen.
«Er will herausfinden, wer den Handel mit den gefälschten Reliquien betreibt.» Rasch berichtete sie ihrem Schwiegervater von Reinolds Vorhaben.
Wenn sie jedoch gedacht hatte, Enno würde sich darüber aufregen, so hatte sie sich gründlich getäuscht. Ihr Schwiegervater runzelte die Stirn und nickte dann leicht vor sich hin. «So schlecht ist der Einfall nicht», meinte er schließlich.
Marysa starrte ihn überrascht an. «Aber Meister Enno, es könnte gefährlich sein, sich mit diesen Männern anzulegen, das habt Ihr neulich selbst gesagt. Bedenkt, was sie Klas angetan haben!»
«Nun, gewiss ist es nicht ohne Risiko. Doch gerade weil sie Klas erschlagen haben, gehören sie vor Gericht. Sollte Reinold tatsächlich herausfinden, wer dafür verantwortlich ist, wäre es nur recht und billig, den Betreffenden an die Schöffen auszuliefern. Abgesehen davon spiele auch ich schon länger mit dem Gedanken, mein Geschäft auf den Reliquienhandel auszuweiten. Sieh nur, wie viele Pilger dieser Tage in Aachen sind! Wenn nur jeder Zehnte ein solches Heiltum erwirbt, würde uns das reicher machen, als du es dir vorstellen kannst.»
Marysa fasste sich an den Kopf. Waren denn auf einmal alle verrückt geworden? «Ich begreife nicht, wie Ihr das gutheißen könnt!», brach es schließlich aus ihr heraus. «Der Reliquienhandel ist kein simples Unterfangen. Man braucht Fingerspitzengefühl und die richtigen Kontakte. Und wenn man den Menschen Fälschungen andreht, noch dazu in dem Umfang, der Reinold vorschwebt, dann wird das bald ans Licht kommen. Auf den Handel mit gefälschten Heiltümern stehen hohe Strafen, sowohl vor dem weltlichen als auch vor dem Kirchengericht. Sie werden Reinold als Ketzer hinstellen und Euch ebenfalls, wenn Ihr da mitmacht!»
Enno sah sie einen Moment lang gereizt an. «Was erlaubst du dir eigentlich? Sprich gefälligst nicht in diesem Ton mit mir! Hast du den Verstand verloren?»
Marysa spürte Ärger in sich aufsteigen, und noch ehe sie sich bremsen konnte, brach es aus ihr heraus: «Es scheint, als sei ich die Einzige, die überhaupt noch einen Funken Verstand besitzt,
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