Die Stadt der Heiligen (German Edition)
dass sie gelogen hatte, da war sie sicher. Und was dann? Sie würden ihr danach doch niemals wieder Glauben schenken. Was hatte sich Bruder Christophorus nur dabei gedacht?
Die Glocken des Doms verkündeten die Vesperzeit, der Lärm vom Kaxhof her nahm immer mehr ab. Dann ertönten von irgendwoher Trommeln und Flöten; jemand spielte die Schalmei, und eine angenehme Frauenstimme sang ein französisches Liebeslied.
Marysas Augen brannten. Sie wollte nicht hier sein! Warum konnte ihr Leben nicht wieder so sein wie noch vor drei Wochen? Sie sehnte sich nach ihrer Mutter. Aber noch mehr nach jemandem, der sie in den Arm nahm und ihr sagte, dass das alles nur ein schlimmer Traum war. Jemand, der … Nein, das war alles Unsinn. So jemanden gab es nicht. Nicht einmal Reinold wäre jemals auf die Idee gekommen, sie zu trösten oder ihr Mut zuzusprechen.
Und würde man die Zeit zurückdrehen können, so hätte ihre Mutter auch nicht den Mann gefunden, den sie über alles liebte. Marysa gönnte ihrer Mutter das Glück.
Die Sängerin auf dem Kaxhof hatte die französische Weise beendet, und ein Mann stimmte ein deutsches Lied über die Unbeständigkeit der Frauen an.
Marysa legte sich auf die Seite und umschlang wieder ihre Knie. Langsam senkte sich die Abenddämmerung über Aachen nieder. Marysa versuchte zu schlafen, doch sobald sie die Augen schloss, sah sie den toten Reinold vor sich. Also starrte sie weiterhin in die hereinbrechende Nacht und bemühte sich nach Kräften, an nichts zu denken.
***
Nachdenklich verließ Christophorus das Haus des Domherrn van Kettenyss und wanderte über die Domimmunität Richtung Rathaus. Bisher war sein Plan aufgegangen. Er hatte Marysa angesehen, dass sie nicht einverstanden gewesen war, doch sie hatte begriffen, was er vorhatte. Leider hatte er nicht damit gerechnet, dass der Domherr diesen Theophilus ins Spiel bringen würde. Und was ihn erwartete, als er dem Augustiner gegenübergetreten war, war womöglich noch schlimmer.
Müde überquerte Christophorus den Kaxhof, auf dem in der Dämmerung noch eine beachtliche Anzahl Pilger um eine vierköpfige Gauklertruppe versammelt war. Ein Mann und eine Frau sangen abwechselnd französische und deutsche Lieder, und die Zuschauer klatschten dazu im Takt.
Christophorus setzte sich auf eine der unteren Stufen, die zum Eingang des Rathauses führten, und blickte an der Fassade der Acht hinauf. Sie wirkte in der zunehmenden Dunkelheit düster und bedrohlich.
Hinter einem der vergitterten Fenster im oberen Stockwerk war Marysa eingesperrt. In den Zellen herrschte natürlich Dunkelheit; und es war auch keinerlei Bewegung an den Fenstern auszumachen. Die Zeit verrann, während er sich den Kopf darüber zerbrach, wie er Marysa in dieser misslichen Lage helfen konnte.
Die Stadtwachen kamen über den Kaxhof und trieben die Leute auseinander. Die Gaukler packten in Windeseile ihre Sachen zusammen und trollten sich.
Christophorus konnte sich jedoch nicht entschließen, zur St. Jakobstraße zu gehen, deshalb verhielt er sich ruhig und wartete, bis die Wächter, ohne ihn zu beachten, weiterzogen.
«Wenn Ihr zur Komplet mit Euren Mitbrüdern beten wollt, solltet Ihr Euch langsam auf den Weg machen», sagte eine krächzende Stimme neben ihm. Als er den Kopf hob, erkannte er den alten Pilger Amalrich.
«Ich hoffe, ich störe Euch nicht. Ihr macht den Eindruck, tief in Gedanken versunken zu sein.»
Christophorus zuckte mit den Schultern. «Das war ich wohl, jedoch ohne rechtes Ergebnis.»
Amalrich ließ sich ächzend neben ihm nieder und stützte sich auf seinen abgenutzten Pilgerstab.
«Wenn man nicht weiterweiß, denkt man womöglich in die falsche Richtung. Zwar weiß ich nicht genau, was Euch beschäftigt, aber nach allem, was ich heute auf der Straße aufgeschnappt habe, vermute ich doch, es hat mit der Festnahme dieser jungen Frau zu tun, der Witwe Markwardt.»
Christophorus musterte ihn aufmerksam. «Was wisst Ihr darüber?»
«Das, was alle wissen», sagte Amalrich bedächtig. «Wie man hört, hat van Kettenyss den Augustiner ins Spiel gebracht.»
«Ihr habt Eure Ohren tatsächlich überall», stellte Christophorus nicht ohne Bewunderung fest.
Amalrich lächelte nur. «Was mich an der Sache besonders überrascht, ist, dass Theophilus überhaupt in der Lage war, etwas zu sagen.» Er sah sich angelegentlich um, doch weit und breit war keine Menschenseele auszumachen. Vertraulich beugte er sich zu Christophorus hinüber. «Es ist nämlich
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