Die Stadt der Könige: Der geheime Schlüssel - Band 2 (kostenlos bis 14.07.2013) (German Edition)
sie waren so schrecklich, dass sie ihr die Luft zum Atmen nahmen. Keuchend fiel Phine auf die Knie und verbarg ihr Gesicht in den Händen, aber die Bilder von Krieg und Tod hörten nicht auf. Das ganze Land brannte. Waldoria lag in Trümmern. Söldner und heimische Krieger prügelten sich auf den Straßen, vergewaltigten und mordeten ohne Not und Grund.
Auf Knien rutschte Phine zu Lume´tai, hob sie mit einem Ruck auf und drückte sie fest an sich.
Lume´tai begann leise zu weinen.
Phine legte sie in ihre Armbeuge und wiegte sie, dabei sah sie in die klaren, blauen Augen dieses Kindes. Lume´tai lächelte. Schlagartig veränderten sich die Bilder. Der Mond leuchtete voll und hell und verlieh dem Wald einen nachtblauen Schimmer. Ein Elbe, in dunkle, fließende Umhänge gekleidet, ging zwischen den Bäumen entlang. Seine Haare schimmerten silbern im Mondlicht, in den Händen trug er einen golden, glänzenden Schlüssel. Phine hatte von diesem Schlüssel gehört und wusste, wer der Elbe war, der ihn trug. Sie streichelte Lume´tais Wange.
„Wer von uns beiden ist in der Lage, die Zukunft zu sehen?“, flüsterte sie.
Lume´tai gähnte.
Phine seufzte. „Auch deine Deutung bedeutet Krieg“, warnte sie.
Lume´tai schob den Daumen in den Mund und nuckelte daran.
Phine seufzte erneut. Das Leben prüfte sie. „Dann soll es so geschehen!“, sagte sie.
Zufrieden schloss Lume´tai die Augen.
Vorsichtig setzte sich Phine mit ihr ans Ufer und wiegte sie leicht hin und her, während sie sich überlegte, wie sie vorgehen wollte. Ihrem irdischen Körper waren einige Grenzen gesetzt, ihren geistigen Körper lernte sie gerade erst kennen und beherrschte ihn noch nicht so recht. Auf irgendeine Weise schien Lume´tai ihr helfen zu können, wenn sie schlief. Trotz all ihrer Gaben war es Phine noch nie gelungen, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Doch heute wusste sie, dass sich der Lauf der Welt an einem Scheideweg befand.
Lume´tai wusste es. Diese Bilder hatte sie ihr übermittelt. Phine war ängstlich und neugierig zugleich. Es war, als wenn ein dickes Buch vor ihr liegen würde, in dem alles Wissen enthalten war. Und jetzt, da sie sich entschieden hatte, sich vor ihren inneren Kräften nicht länger zu verschließen, war sie bereit, es aufzuschlagen.
Vielleicht war Ala´na noch in der Nähe. Vielleicht konnte sie von ihr etwas erfahren.
Phine starrte auf den See. „Ala´na?“, rief sie leise. „Ala´na“, wiederholte sie.
Die Wellen des Teiches rollten von außen nach innen und bildeten einen perfekten Kreis – einen Spiegel – in seiner Mitte. An diesen Kreis brandeten sie an, als ob er nicht auch aus Wasser bestehen würde. Ein Gesicht erschien in der Mitte des Kreises. Goldbraune Haare umrahmten ein schönes, alterloses Gesicht. Mandelförmige Augen in der Farbe des Teiches sahen Phine forschend an. Ein Lächeln umspielte rote, wohlgeformte Lippen.
„Du hast heute viel für uns getan, Herrin des Lebens. Waldo’ria hat sich uns seit tausend Jahren verschlossen, doch heute ist sie wieder frei.“
„Du bist Ala´na?“
„Ich bin Ala´na vom Wald, die Herrin von Latar´ria. Manche sagen auch, die der Warte und des stillen Quells Waldo’ria. Aber heute ist die wahre Herrin von Waldo´ria zu mir gekommen. Ich verneige mich vor dir.“
Phine stutzte. Irgendwas war anders. Als sie vorhin in Licht gebettet mit Ala´na sprach, war sie wissend gewesen. Jetzt saß sie eindeutig am Ufer, hielt Lume´tai in den Armen und war sicher nicht das wissende Wesen, sondern so wie immer – Josephine.
„Möglicherwiese habe ich den See geöffnet, aber ich bin nicht die Herrin von Waldo´ria“, hörte sie sich antworten. „Die Herrin des Sees ist noch zu klein, um mit dir zu sprechen.“ Sie hob die Arme so weit nach oben, wie es ihr möglich war, ohne Lume´tai zu wecken.
Ein nachdenklicher Ausdruck flog über Ala´nas Gesicht, dann lachte sie und entblößte zwei Reihen strahlend weißer Zähne.
„Herrin des Lebens, du hältst den Sternenstrahl meines Geschlechts in deinen Armen. Es war sehr weise von Leron´das, sie bei dir zu lassen.“
„Nenn mich Josephine, das ist mir wohler, denn im Augenblick bin ich nicht die, die dir vorhin begegnet ist. Im Augenblick bin ich nicht die Herrin des Lebens, sondern nur ein Menschenkind auf der Suche nach Antworten. Bist du im See gefangen?“
Ala´na wurde ernst. Ihre hohen Wangenknochen stachen hart hervor und gaben ihrem lieblichen Gesicht einen verschlossenen
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