Die Stadt der schwarzen Schwestern
«Warum willst du das wissen?»
«Weil du dann wie eine verdammte Närrin gehandelt hättest. Es bringt nämlich Unglück, sich an Kircheneigentum zu vergreifen. Jeder kleine Gauner und Beutelschneider in Brüssel weiß und respektiert das. Aber du siehst nicht wie eine Närrin aus. Eher wie eine Frau, die sich daran gewöhnen musste, um ihr Überleben zu kämpfen.»
Cäcilia fand einen arglosen Zug im Blick des älteren Mannes. Gewiss, er war ein Vagabund, vielleicht sogar noch Schlimmeres. Aber sie spürte, dass sie von ihm nichts zu befürchten hatte. Sie drückte ihr Bündel mit dem Buch wie einen Säugling gegen die Brust. «Ich muss fort», sagte sie schließlich leise. «Verstehst du?»
Der Mann kratzte sich am Kopf. «Nun ja, heute Nacht wird dich hier niemand mehr …»
«Nein, so meine ich das nicht. Ich muss fort aus Brüssel und brauche einen guten Führer. Einen vertrauensvollen Burschen, der nicht auf den Kopf gefallen ist und mir helfen kann, spanischen Patrouillen aus dem Weg zu gehen.»
Die Augen des alten Mannes glitzerten. Was er über die merkwürdige Nonne dachte, gab er nicht preis. Nach einem kurzen Augenblick sagte er: «Du wärst nicht die Erste, die ich erfolgreich außer Landes geschafft habe, mein Kindchen. Nachdem Herzog von Alba die Grafen Egmont und Hoorn wegen Hochverrats auf dem Marktplatz enthaupten ließ und weitere Todesurteile fällte, habe ich vielen Landsleuten geholfen.» Er rieb lächelnd Daumen und Zeigefinger gegeneinander. «Gegen ein entsprechendes Entgelt wird sich kein Spanier an dir und deiner Habe vergreifen. Wo auch immer du sie … gefunden hast.»
Cäcilia hob irritiert die Augenbrauen. Sie konnte die Hitze des Kohlebeckens nicht mehr von ihren fiebrigen Wangen unterscheiden. Vielleicht war es Irrsinn, ihr Leben und das Buch einem armen Teufel wie diesem zerlumpten Mann anzuvertrauen. Ganz sicher war es ein Wagnis, aber die vergangenen Tage hatten sie gelehrt, nicht allzu wählerisch zu sein. Im Schein der Tranlampen und Kerzenstummel betrachtete sie sich den Mann genauer. Zu ihrer Verblüffung stellte sie fest, dass er jünger sein musste, als es den Anschein hatte. Es waren der wirre weiße Bart und die gebückte Haltung, die sie getäuscht hatten.
«Wie heißt du?», wollte sie wissen.
«Nennt mich einfach Tobias.»
«Nun gut, Tobias, dann vertraue ich mich deiner Führung an. Aber lass dir zwei Dinge gesagt sein.» Sie näherte sich mit ihren Lippen dem Ohr des Mannes und raunte ihm zu: «Das Buch, das ich in meinem Bündel habe, geht dich nichts an. Frag mich niemals nach ihm und verlange nicht, dass ich es dir zeige. Ich habe es nicht gestohlen. Mehr brauchst du nicht zu wissen.»
Tobias grinste, damit konnte er leben. «Und was noch?»
Cäcilia klopfte sich die Strohhalme von ihrem Gewand. «Wenn du bezahlt werden willst, redest du mich besser nie mehr mit ‹mein Kindchen› an. Ich heiße Cäcilia.»
Die beiden blieben noch eine Weile am wärmenden Feuer sitzen. War Cäcilia zuvor eine Außenseiterin gewesen, die man nach Herzenslust beleidigen und bestehlen durfte, so hatten ihr Sieg über die Pockennarbige und Tobias’ Fürsprache ihr eine Verschnaufpause beschert. Die Hure sah Cäcilia nicht mehr; offensichtlich hatte sie aus Scham über ihre Niederlage das Weite gesucht. Mit einer Selbstverständlichkeit, die Cäcilia verwunderte, verlangte Tobias für sie und sich selber Brot, Milch und eine Schüssel kalten Erbsenbrei, was ihm auch nicht verweigert wurde. Keinem der Bettler und Spitzbuben im Schuppen fiel es ein, Cäcilia noch einmal zu belästigen. Nur Dotteres, die mit ihren Kindern neben der Tür unter einem Ziegenpelz kauerte, warf ihr bohrende Blicke zu. Es schien ihr nicht zu passen, dass Cäcilia bei Tobias hockte und mit ihm aus einer Schüssel aß. Cäcilia, die plötzlich einen Riesenhunger verspürte, zog es vor, sie nicht zu beachten.
«Ihr seid eine bemerkenswerte Frau, Cäcilia», sagte Tobias nach einer Weile. «Ihr seid klug und habt eine gute Erziehung genossen. Das erkenne ich daran, wie Ihr Euch ausdrückt. Normalerweise kann ich in den Menschen lesen wie Mönche in einem Buch, aber an Euch beiße ich mir die Zähne aus. Betrachtet das als Kompliment.» Er lächelte entwaffnend. Cäcilia fand, dass er ganz anders aussah, wenn er sich fröhlich gab. Ohne den struppigen Bart und das zerlumpte Wams hätte er ein Mann sein können, der ihr gefiel. Dass er ein Halunke war, machte die Sache noch reizvoller. Es überraschte
Weitere Kostenlose Bücher