Die Stadt der schwarzen Schwestern
wunderte es, dass er versuchte, das Gebäude mit all seinen Erinnerungen loszuwerden. Griet aber sehnte sich nach Oudenaarde, nach Basse und ihrem Geschäft. Der Graf zuckte enttäuscht mit den Schultern, als sie ihm ihre Entscheidung mitteilte. Er bestand jedoch darauf, Griet noch etwas aus dem Haus mitzugeben.
«Ein Porträt?» Griet starrte das Ölgemälde an, das die Wirtschafterin des Grafen ihr auf Anweisung ihres Herrn überreichte. Auf der verblichenen Leinwand war eine fürstlich gekleidete, dunkelhaarige Frau mit verträumten Augen zu sehen, die ironisch lächelte. Ein hochmütiger Ausdruck lag in ihrem Blick, als sei sie daran gewöhnt, zu befehlen. Griet erinnerte sich noch dunkel an die Zeit, als das Porträt entstanden war. Der Künstler, einer jener jungen flämischen Maler, die für Aufträge des Adels alles gaben, hatte sich oft bis nach Mitternacht in den Räumen ihrer Mutter eingeschlossen. Während sie Modell saß, durfte niemand die beiden stören. Griet hatte das merkwürdig gefunden und weder den Maler noch sein Bild gemocht, obwohl es Isabelle verblüffend ähnlich sah. Nun verwunderte es sie, dass ihr Vater es im Haus zurückgelassen hatte. Auf Drängen des Grafen ließ sie das Gemälde schließlich hinaus zum Karren bringen. Ihr Vater würde sich vielleicht darüber freuen.
«Was ist eigentlich mit Eurer Mutter geschehen?», wollte Don Luis wissen, nachdem sie endlich aufgebrochen waren. «Ihr sprecht nie über sie, dabei spüre ich, dass sie Euer Leben berührt haben muss. Seid Ihr vor Eurer Mutter nach Oudenaarde geflohen?»
Geflohen? Griet blickte ihn verwundert an. Wie kam er nur auf diese Idee? Sie musste daran denken, wie sehr er auch aus dem Schicksal seiner eigenen Mutter ein Geheimnis machte. «Isabelle van den Dijcke ist schon vor Jahren gestorben. Seit ich selbst Mutter bin, wünsche ich mir, uns wäre mehr Zeit geblieben, einander besser kennenzulernen. Bis heute habe ich nur ein paar schwache Erinnerungen an sie, die zudem von dem Bild beeinflusst sind, das mein Vater von ihr hat.» Sie wies auf das Gemälde, das unter einer Decke zu ihren Füßen lag. «Seine Schwärmereien sind wie dieses Porträt hier. Sie gehen von einem wahren Kern aus, werden aber mehr dem Wunsch als der Wirklichkeit gerecht.»
«Und wie sieht die Wirklichkeit aus?»
Griets Miene verdüsterte sich. «Sie hat mir das Gefühl gegeben, ich sei nur auf der Welt, um sie zu bewundern. In ihrer Gegenwart wurde ich einfach übersehen. Sie war die Rose, ich das Gänseblümchen. Eine Rose will gehegt und gepflegt werden, damit sie nicht verblüht. Mein Vater trug mir auf, mich um sie zu kümmern. Ihr keinen Ärger zu machen und ihre Launen zu tolerieren. Aber sagt das mal einem kleinen Mädchen. Wie hätte ich es schaffen sollen, eine schwierige Frau wie Isabelle glücklich zu machen? Es vergingen viele Jahre, bevor ich begriff, dass sie eine selbstsüchtige, in sich verliebte Person war. Aber vermutlich konnte sie gar nichts dafür. Sie wollte mehr, als Vater und ich ihr geben konnten.» Sie hielt kurz inne, um Don Luis’ Miene zu studieren. «Schockiert es Euch, dass ich so über meine Mutter rede?»
Er schenkte ihr einen mitfühlenden Blick. «Ich habe mir das Porträt genau angesehen. Was Ihr sagt, bestätigt meinen Eindruck. Wer auch immer sie gemalt hat, verstand etwas von seinem Handwerk. Er bildete eine Edeldame ab, die mit kühlen Augen lächelt, während ihr Kopf von einer Flut düsterer Gedanken heimgesucht wird. Ihr seid da ganz anders, Griet. Wenn Ihr lächelt, was leider zu selten vorkommt, dann täuscht Ihr nichts vor, sondern lasst Eure Seele und Euer Herz sprechen.»
Griet errötete. So hatte sie es noch nie betrachtet. Als Kind war sie gern fröhlich gewesen. Erst an dem Tag, an dem sie die Macht über ihren Arm verloren hatte, hatte sich das geändert.
«Euer kranker Arm hat mit Isabelle zu tun, nicht wahr?»
Griet ließ sich Zeit mit einer Antwort. Es war nicht so, dass sie fand, es ginge ihn nichts an. Sie war nur noch nicht bereit, ihm zu erzählen, was an jenem schicksalhaften Tag vorgefallen war. Sich daran zu erinnern bedeutete, alte, längst vernarbte Wunden aufzureißen. Jedenfalls hatte sie es bislang so betrachtet. Nicht einmal Willem hatte sie erzählt, was sich zwischen ihr und ihrer Mutter zugetragen hatte. Im Nachhinein tat Griet dieses Versäumnis leid. Gut möglich, dass sich Willem und seine Familie in ihrer Gegenwart wohler gefühlt hätten, wenn sie vertrauensvoller
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