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Die Stadt der schwarzen Schwestern

Die Stadt der schwarzen Schwestern

Titel: Die Stadt der schwarzen Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
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war wie die enge Gasse, in der der Buchhändler wohnte. Don Luis hielt es für angebracht, sparsam mit dem Geld umzugehen. Wer konnte schon wissen, welche Überraschungen die Suche nach der letzten lebenden schwarzen Schwester noch für sie bereithielt? Griet musste ihm zustimmen. Wenigstens lief sie in dieser Gegend nicht Gefahr, früheren Bekannten ihrer Familie zu begegnen. Während sie durch die kleine Fensterluke den Schnee betrachtete, der in immer dickeren Flocken vom Himmel fiel, war sie dankbar dafür, dass die Kammer über der Küche lag. So stieg genügend Wärme durch die Ritzen des Fußbodens auf, um sie nicht völlig einfrieren zu lassen. Hier oben gab es nämlich keinen Ofen, und ihr Atem verwandelte sich allmählich in kleine Wölkchen.
    Sie berührte das dünne Glas der Butzenscheiben mit den Fingerspitzen und dachte daran, wie viel Freude Basse an den winzigen Eiskristallen hätte, die wie Blumen aussahen. Wie mochte es dem Jungen gehen? War er gesund und fröhlich? Tobte er mit seinem Großvater und Beelken durch den schneebedeckten Klosterhof und jauchzte dabei vor Vergnügen? Vielleicht konnte Beelken sich in ihrem Zustand schon gar nicht mehr wie gewohnt um ihn kümmern. Griet begann nachzurechnen, wann das Kind auf die Welt kommen würde. Vermutlich nicht vor Beginn des neuen Jahres. Griets Angebot, mit ihr beim Statthalter vorzusprechen und den Burschen, der ihr das angetan hatte, suchen zu lassen, war von der jungen Frau zurückgewiesen worden. Griet fragte sich, warum sie nicht wenigstens ihr gegenüber mit der Sprache herausrückte. Stattdessen ergab sie sich in ihr Schicksal, als habe sie nichts anderes verdient. Sie schien sich weder auf ihr Kind zu freuen noch es zu verwünschen. Griet zuckte seufzend die Achseln und dachte wieder an Basse und an ihre Sehnsucht nach ihm. Was würde sie geben, jetzt sein fröhliches Lachen hören zu können.
    Als Don Luis in die Kammer gelaufen kam, befand sich in seiner Begleitung ein kleiner Junge, der sich vor Kälte schlotternd in die Finger hauchte. Der verwahrlosten Erscheinung nach, die der Junge bot, lebte er auf der Straße. Trotzdem schien ihm jemand die nötigen Umgangsformen beigebracht zu haben, denn als er Griet sah, zog er artig seine durchnässte Mütze, unter der ein dichter weizenblonder Schopf hervorquoll. Mit seinem aufgeweckten Grinsen erinnerte sie der Bursche an Basse, obwohl er gut und gern sechs Jahre älter war und seinem Auftreten nach über eine Lebenserfahrung verfügte, die Griet ihrem Sohn bestenfalls in zwanzig Jahren wünschte.
    «Das ist der kleine König», stellte Don Luis den Jungen mit einem verschmitzten Lächeln vor. «Er bringt uns die Nachricht, auf die wir gewartet haben. Dafür habe ich ihm mit Eurer Erlaubnis versprochen, dass er sich später in der Wirtsstube auf unsere Kosten seinen Bauch vollschlagen darf.» Er klopfte dem Jungen freundschaftlich auf die Schulter, eine Geste, die Griet auffiel, weil sie es nicht für möglich gehalten hatte, dass ein Mann wie Don Luis Kinder gern hatte.
    Der Kleine lachte. Er schien sich in Don Luis’ Gegenwart wohlzufühlen. Vielleicht hatte dieser ihm außer einem Teller Suppe auch noch Geld versprochen, weil er ihm leidtat. Es war nicht zu übersehen, dass der Junge von der Hand in den Mund lebte. Dennoch schien es jemanden zu geben, der sich um ihn kümmerte, so war seine Hose aus rauem Segeltuch mit feinen Stichen ausgebessert worden. Griet sah so etwas sofort. Während sie ihn musterte, blickte er sich fortwährend um, als befürchtete er, gleich am Kragen gepackt und wieder hinausbefördert zu werden.
    «Soso, eine Nachricht.» Griet hob die Augenbrauen. «Ich hoffe, der kleine König verzeiht mir, wenn ich nicht aufstehe, aber ich fürchte, meine Füße sind ein wenig eingefroren.»
    Der Junge kicherte vergnügt. «Aber ich bin doch kein richtiger König, vor dem man sich verbeugen muss. Meine Mutter nennt mich so, weil sie mich am Tag der Heiligen Drei Könige auf die Welt gebracht hat. Sie sagt, ich könnte mich glücklich schätzen, weil viele Jungen in den vom Krieg heimgesuchten Dörfern nicht einmal wissen, in welchem Jahr sie geboren wurden.»
    Wie wahr, dachte Griet. «Du hast also noch Eltern?», fragte sie. «Haben sie dich nach Brüssel gebracht?»
    Der Junge zögerte. «Eltern? Nein, ich habe nur meine Mutter und meine Schwester, aber die hat, solange ich sie kenne, noch kein Wort gesprochen. Vielleicht hat man ihr die Zunge rausgeschnitten, keine

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