Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt der schwarzen Schwestern

Die Stadt der schwarzen Schwestern

Titel: Die Stadt der schwarzen Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
Vom Netzwerk:
eigenen werden würde. Unglücklicherweise sah und hörte sie nicht, ob sich in der Kammer oder auf dem finsteren Korridor etwas regte. War der Mann fort, oder lauerte er argwöhnisch auf sie? Van den Dijcke und die Kinderfrau hatten sie bestimmt nicht verraten. Ob sie sich fragten, was aus ihr geworden war?
    Es mochten Stunden vergangen sein – vielleicht aber auch nur wenige Augenblicke, als Pamela es schließlich wagte, ihre eingeschlafenen Gliedmaßen zu bewegen. Alles tat ihr weh, außerdem bekam sie kaum noch Luft. Sie versuchte, den schrecklichen Geruch zu ignorieren, der sie wie ein Leichentuch einhüllte, doch allmählich schwanden ihr die Sinne. Sie hielt es nicht mehr aus. Sie würde qualvoll ersticken, wenn sie nicht den Deckel öffnete. Hinzu kam, dass der Gedanke, zwischen zwei Toten zu kauern, sie beinahe um den Verstand brachte.
    Sie wölbte ihren Rücken und stützte sich auf die Beine ihres Bruders, um den Deckel der Truhe aufzustoßen. Als dieser mit einem Ruck nachgab und in die Höhe schoss, fiel plötzlich ein Lichtschein in ihr Gesicht. Sie schrie. Dann sah sie ihn. Sie sah eine Gestalt, die in einen langen Schal gewickelt war, der außer den Augen keine Stelle des Gesichts frei ließ. Auch der Mann, der sich mit einer Laterne in der Hand über sie beugte, erschrak. Mit einem Fluch sprang er von der Truhe zurück, wobei ihm die Laterne aus der Hand glitt und auf dem Boden zerbrach. Pamela stieg kreischend und um sich schlagend aus der Truhe. In Panik bewarf sie den Vermummten mit ihrem Umhang und sah, dass irgendetwas zu dessen Füßen Feuer fing. Während der Unbekannte hektisch die Flammen austrat, stürzte sie aus dem Keller und schaffte es über die Treppe auf den Hof hinaus. Ein Keuchen hinter ihr machte ihr klar, dass der Mörder ihrer Brüder die Verfolgung aufgenommen hatte.
    Pamela schrie aus Leibeskräften um Hilfe. Ein eisiger Wind schlug ihr entgegen und nahm ihr den Atem. Ihre Schreie wurden in Wortfetzen zerhackt. Am Tor wandte sie sich atemlos um und sah, wie eine von Kopf bis Fuß vermummte Gestalt auf sie zukam. Die Bewegungen des Mannes waren geschmeidig, beinahe katzenhaft. Vor der Treppe, die hinauf zum Haupthaus führte, blieb er unvermittelt stehen und starrte sie an. Offensichtlich überlegte der Mann, ob er es wagen durfte, sich unter freiem Himmel auf sie zu stürzen, bevor ihr Gebrüll die Bewohner der umliegenden Häuser zusammenrief.
    Pamela rüttelte wie eine Wahnsinnige am Tor. Die Angst, es könnte klemmen, schnürte ihr die Kehle zu. Er kam näher, nur noch wenige Schritte trennten sie voneinander. Dann gab das Tor mit einem Knirschen nach, und der Weg hinaus in die menschenleere Gasse war frei. Ein letzter Blick zurück zeigte ihr, wie der Verfolger über den Hof rannte.
    Gott stehe mir bei, war Pamelas Gedanke, als sie blindlings davonstolperte.

    Als der Morgen graute, klopfte es gegen das Tor des Beginenhofes von Oudenaarde. Uta, die Vorsteherin, hatte durchaus erwartet, dass jemand sie in den nächsten Stunden aufsuchen würde. Doch so früh schon? Auf der Gasse war es noch still, nicht einmal das Glöckchen auf dem Turm der nahen Klosterkirche bimmelte, um die Gläubigen zur Frühmesse ins Gotteshaus zu rufen.
    Besorgt blickte Uta zu dem schlafenden jungen Mädchen, das spät in der Nacht an ihre Tür geklopft und ihr schluchzend und weinend eine verworrene Geschichte erzählt hatte, aus der sich Uta keinen Reim machen konnte. Da die Begine gutmütig war und niemanden abwies, der in Not war, hatte sie die aufgelöste und am ganzen Körper zitternde junge Frau in Decken gepackt und sich selbst erboten, bei ihr zu wachen, bis das Schlafmittel, das sie aus verschiedenen Kräutern gemischt hatte, wirkte. Jetzt schlief sie. Unruhig zwar, aber tief genug, um nicht von bösen Träumen geweckt zu werden. Es war nicht auszuschließen, dass das Mädchen krank war, obwohl seine Stirn sich kühl anfühlte. Uta sah es als ihre Pflicht an, herauszufinden, ob an der Behauptung des Mädchens etwas dran war oder ob es sie belog. Erst danach konnte sie den Wunsch der Kleinen, den Beginen beizutreten, überhaupt in Betracht ziehen.
    Uta erhob sich und verließ den Raum, um nachzusehen, ob am Tor jemand aus der Familie des Mädchens stand, der sie abholen wollte. Mit der Schar bewaffneter Männer, die wenige Augenblicke später ihren Hof füllte, hatte die Begine nicht gerechnet. Mit einer resoluten Geste scheuchte sie einige Frauen, die neugierig herangetreten waren,

Weitere Kostenlose Bücher