Die Stadt der Singenden Flamme - Die gesammelten Erzaehlungen - Band 1
unsichtbar in der Finsternis verborgen lag. Ralibar Vooz trat dicht an die Kante heran und sah, dass daran in Abständen große Netze klebten, deren vielfache Überschneidungen und Verknüpfungen grauer, seilstarker Fäden den Schlund überspannten. Eine andere Überbrückung des Abgrundes gab es nicht. Weit draußen auf einem der Netze machte Ralibar Vooz einen dunklen Umriss aus, groß wie ein geduckter Mensch, doch mit langen, spinnenartigen Gliedmaßen. Und als wäre er in einem Albtraum gefangen, hörte er seine eigene Stimme laut ausrufen: »O Atlach-Nacha, ich bin das Geschenk, das Tsathoggua dir sendet.«
Das finstere Etwas eilte mit unglaublicher Geschwindigkeit auf Ralibar Vooz zu. Als es nahe genug herangekommen war, erkannte er, dass der gedrungene, ebenholzschwarze Leib ein Gesicht aufwies, das tief zwischen den von mehreren Gelenken unterteilten Beinen saß. Dieses Gesicht starrte mit einem eigenartigen, zugleich zweifelnden und fragenden Ausdruck zu ihm hoch. Und Grauen kroch dem kühnen Jäger bis ins Mark, als ihn der Blick der kleinen, tückischen Augen traf, die von Borsten umsprossen waren.
Dünn, schrill und spitz wie ein Stachel drang die Stimme des Spinnengottes Atlach-Nacha in sein Ohr: »Meinen ergebensten Dank für dieses Geschenk. Doch weil außer mir selbst niemand jenen Abgrund mit einer Brücke zu überspannen vermag, und weil die Vollendung dieser Aufgabe einer Ewigkeit bedarf, ist meine Zeit zu kostbar, um dich erst mühselig aus diesem sonderbaren, metallenen Schuppenkleid zu schälen. Doch könnte es sein, dass der vormenschliche Hexenmeister Haon-Dor, der jenseits dieser Kluft in seinem aus urzeitlichen Zaubern errichteten Palast residiert, irgendeine Verwendung für dich findet. Die Brücke, die ich eben vollendet habe, verläuft zu der Schwelle seines Palastes – und dein Gewicht soll dazu dienen, die Festigkeit meiner Spinnfäden zu erproben. So geh denn hin unter dem Banngelübde, dass du die Brücke überquerst, vor Haon-Dor hintrittst und sagst: ›Atlach-Nacha schickt mich zu dir.‹«
Dies gesagt, stieg der Spinnengott aus seinem Netz und eilte am Rande des Schlundes entlang rasch außer Sicht – zweifellos in der Absicht, an einer weiter entfernten Stelle mit dem Weben einer weiteren Brücke zu beginnen.
Obwohl das dritte Banngelübde schwer und zwingend auf ihm lastete, folgte Ralibar Vooz dem Vogel Raphtontis nicht allzu willig über jene nachtdunklen Tiefen. Doch die Spinnfäden Atlach-Nachas erwiesen sich unter seinen Füßen als fest, sie gaben nur ein wenig nach und gerieten leicht ins Schwanken. Weit unten in unauslotbarer Tiefe, zwischen den Maschen des Netzes hindurch, vermeinte er vage den Schwingenschlag von Drachen mit Klauen an den Flügelspitzen zu erkennen, und als brodelte die Finsternis, wurden immer wieder schreckliche, unbeschreibliche Formen sichtbar, die von einem Augenblick zum anderen auftauchten und wieder versanken.
Bald jedoch gelangten Ralibar Vooz und sein Führer zum gegenüberliegenden Rand des Schlundes, wo das Netz Atlach-Nachas mit der untersten Stufe einer mächtigen Treppe verbunden war. Die Treppe wurde von einer eingerollten, gefleckten Schlange bewacht, deren Sprenkel so groß wie Rundschilde waren und deren Leib an der dicksten Stelle mehr Umfang besaß als der Körper eines starken Kriegers. Die Hornringe am Schwanzende der Schlange klapperten wie eine Rassel und sie ließ einen bedrohlichen Schädel vorschnellen, dessen Giftzähne so lang und krumm waren wie Sichelklingen. Doch als es Raphtontis erblickte, gab das Reptil den Weg frei und erlaubte Ralibar Vooz, die Stufen emporzusteigen.
So betrat der Jäger, sein drittes Banngelübde erfüllend, den tausendsäuligen Palast des Haon-Dor. Absonderlich und schweigend waren die aus dem grauen Fundamentgestein der Erde gemeißelten Hallen. Darin wogten gesichtslose Gebilde aus Rauch und Nebel rastlos zwischen Steinfiguren, die Ungeheuer mit tausenderlei Köpfen darstellten. Tropfenden Nachtgestirnen gleich glommen hoch oben unter den Gewölbedecken Lampen mit abwärts weisenden Flammen, als brennte dort Frost oder Fels. Ein eisiger Geist des Bösen, weit älter als der Mensch zu begreifen vermag, herrschte in diesen Hallen, und Grauen und Furcht durchkrochen sie wie unsichtbare, aus dem Schlaf geweckte Schlangen.
Durch diese labyrinthischen Fluchten flog Raphtontis mit einer Sicherheit, als wäre er mit jeder ihrer Windungen vertraut, und geleitete Ralibar Vooz in ein hohes,
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