Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
landen können.
Sah dieses Mädchen vielleicht nur so aus wie ich? Hatte sie ganz einfach nur ähnliche Haare? Blondes Haar kommt schließlich nicht so selten vor. Sonst habe ich ja keine außergewöhnlichen Merkmale, die mich aus der Menge hervorstechen lassen . A bgesehen von meinen Narben natürlich.
In der Gasse hinter mir höre ich Gelächter, das mich aus meinen Gedanken reißt. Ich verschränke die Arme vor der Brust, schlinge meinen Mantel fest um mich und ziehe die Schultern hoch. Hier in den Schatten ist es kälter, der eisige Winter hat sich in den rissigen Mauern eingenistet.
Jemand ruft, und alarmiert gehe ich schneller, den Blick auf meine Füße gerichtet. Gerade als ich die Ecke erreiche, sind weitere R ufe und das Geräusch von rennenden Schritten zu hören.
Blitzschnell ziehe ich mich in einen verfallenen Hauseingang zurück und taste nach dem Messer in meinerTasche. Eine Gruppe von drei Männern hat ein Stück weiter ein abgemagertes Mädchen eingekreist, das vielleicht gerade mal imTeenageralter ist, und einen großen, schlaksigen Jungen, der auch nicht viel älter sein kann. Beide tragen schäbige graue Kittel, die ihnen um die Knie flattern. Einer der Männer stürzt sich auf den Jungen und greift ihn an. Mit weit aufgerissenen Augen und zitternden Lippen weicht das Mädchen zurück.
In der dunklen Gasse treffen sich unsere Blicke. Das Mädchen ist kleiner als ich, zierlich, mit schmalen Schultern und einem spitzen Kinn. Einer der Männer packt sie am Oberarm, und sie ruft um Hilfe. Mit Blicken fleht sie mich an, etwas zu tun.
Ich halte das Messer so fest, dass meine Finger schmerzen. Die Männer können mich nicht sehen, denn ich kauere an einem alten Betonpfeiler außerhalb ihres Sichtfeldes. Das Mädchen will sich schreiend aus dem Griff des Mannes befreien. Der Junge streckt die Arme nach ihr aus, aber er liegt hilflos auf dem Boden, während ihm die beiden Männer abwechselnd in die Rippen treten.
Meine Zähne tun weh, so fest beiße ich sie zusammen, mein Herz klopft wie wild. Ich sollte ihnen helfen. Es ist sonst niemand da, und es ist offensichtlich, dass diese Kinder hoffnungslos unterlegen sind.
Ich könnte mich anschleichen und die Männer überraschen. Ich könnte losrennen und jemanden holen. Ich könnte mit irgendetwas werfen.
Aber nichts von all dem würde wirklich helfen, ich würde die Aufmerksamkeit nur auch noch auf mich lenken, und ich will wirklich keinen Ärger.
Unfähig zu einer Entscheidung bleibe ich, wo ich bin, als zwei R ekruter an mir vorbeistolpern. Ihre Aufmerksamkeit gilt eher demWeg, den sie entlangschlingern, als mir in meinen abgerissenen Kleidern.
»Was ist hier los?«, ruft der eine mit dröhnender Stimme. Die beiden Männer entfernen sich hastig von den Jugendlichen, das Mädchen steht zitternd da, ihr Begleiter liegt stöhnend auf der Seite und hält sich den Bauch.
Das Mädchen schaut die R ekruter an wie R etter in der Not. Mir dreht sich der Magen um.
»Danke«, sagt sie. Daraufhin stellen sich die beiden R ekruter links und rechts neben sie. »Diese Männer, die haben gesagt, sie würden einen Ort kennen, wo man frisches Fleisch kaufen kann, aber …« Sie spricht nicht weiter, als der eine R ekruter ihr die Hand auf die Schulter legt und mit dem Daumen an ihrem Schlüsselbein entlangstreicht.
»Seid ihr Soulers?« Er und sein Kamerad sehen sich an, als hätten sie eben am Grund einer Mülltonne einen Schatz gefunden.
Das Mädchen schluckt, sie schaut mit großen Augen von einem zum anderen. Ihre Brust hebt und senkt sich so schnell wie die einesVogels. Zögernd nickt sie, und die R ekruter grinsen von einem Ohr zum anderen.
»Wir suchen nach solchen wie euch«, sagt er. »Der Kommandierende hat ein paar Fragen, auf die er Antworten möchte. Obwohl ich nicht glaube, dass es eilt.«
In mir brennt dieWut. Es gab einmal eine Zeit, da genossen die R ekruter Ansehen. Da haben sie tatsächlich Leute beschützt, anstatt ihnen aufzulauern. Ich wäre schlau, wenn ich mich in die Schatten zurückziehen und davonschleichen würde. Das Sicherste wäre für mich, dieses Mädchen und diesen Jungen, die so dumm waren, einem Fremden zu vertrauen, einfach zu vergessen.
Ich war noch nie der R etter für irgendwen. Ich habe es selbst nur knapp geschafft, mich am Leben zu halten, andere schon gar nicht . A ber dann denke ich daran, wie ich meine Schwester imWald zurückgelassen habe.
Ich will mich gerade wegschleichen, als einer der R ekruter das
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