Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
bringen«, biete ich an . A ber ich bin mir nicht sicher, ob ich gegen eine weitere Bande von R ekrutern wirklich etwas ausrichten kann . A ber wenigstens wären wir mehr.
»Wir schaffen das schon.« Seine Stimme klingt sicher, doch in seinen Augen sehe ich das Zögern – und das Entsetzen darüber, was ihnen eben beinahe zugestoßen wäre.
Aber was kann ich noch machen? Also nicke ich und gehe wieder zurück zu den Palisaden. Hoffentlich ist irgendwo da draußen ein Fremder, der Erbarmen mit meiner Schwester hat und dafür sorgt, dass sie in Sicherheit ist und am Leben bleibt.
4
D as aufziehende Gewitter löscht dasTageslicht schon früh aus, ein nach Feuer undVerwesung riechender Wind weht die Straße entlang und dringt durch meine Kleider. Obwohl ich versuche, so schnell wie möglich zurück in die Dunkle Stadt zu kommen, wandere ich immer noch in den Neverlands herum, als die Dunkelheit hereinbricht. In der Nähe schlurft etwas durch eine Gasse, zitternd haste ich auf die nächste Feuerleiter zu, damit ich aufs Dach klettern und den bedrängenden bröckelnden Mauern entrinnen kann.
Bei Nacht ist es hoch oben am sichersten. Hier ist dieWahrscheinlichkeit geringer, dass wandelndeTote sich in der Dunkelheit anschleichen.
Meine Schwester ist nicht weit weg, denke ich, als ich auf die Palisaden zu eile . A bigail ist im Inneren Bereich, gleich am anderen Ufer. Ich schließe die Augen und versuche sie zu spüren . A ls wir noch klein waren, haben wir immer gedacht, es gäbe eine ArtVerbindung zwischen uns, ein Band vielleicht, durch das wir miteinander verknüpft wären.Wenn meine Schwester traurig war, habe ich es immer gespürt – jedes starke Gefühl habe ich mitempfunden, ganz gleich, wo ich gerade war im Dorf.
Wir schienen alles zu teilen damals, wir waren ein Herz, eine Seele, ein Atem . A ber hier in den Neverlands kann ich sie nicht spüren. Bei so vielVerzweiflung ist die eines einzelnen Mädchens nicht auszumachen.
Ich überquere eine klapprige Brücke, die schwankt, weil sie nicht nur mein Gewicht trägt. Die Seile knarren widerwillig, als ein anderer Mensch an ihnen Halt sucht. Ich ziehe das Messer aus derTasche und beschleunige meinen Schritt, laufe an einem verlassenen Dachgarten entlang und husche über eine weitere Brücke. Das ist nicht der richtige Ort für eine Begegnung mit einem Fremden – dabei kann nichts Gutes herauskommen.
Doch die Schritte folgen mir, gewinnen mit jedem Herzschlag an Boden. Ich halte den Kopf tief gesenkt, laufe um die Ecke eines Schuppens und werfe einen Blick zurück. Die Person, die mir folgt, ist groß und breitschultrig, die schlanke Gestalt in lockere Kleider gehüllt, das Gesicht im Dunkel verborgen, die Hände starr an den Seiten.
Ich presse die Lippen aufeinander. Links von mir dringen R ufe aus einem kaputten Fenster, Leute brüllen einander an; diese Ablenkung mache ich mir zunutze und renne los. Ich habe eine grobe Skizze von den Neverlands vor Augen, das Muster der Brücken, die Gebäude miteinander verbinden, die Feuerleitern, die auf die Straßen hinabführen und die Orte, die zu gefährlich sind, um sich dort hinzuwagen.
Gerade als ich über ein großes, niedriges Dach husche, tritt eine Gestalt aus der Schwärze. »He, wohin so eilig?«, fragt der Mann und nähert sich mir mit einem anzüglichen Grinsen.
Ich komme mir so dumm vor, weil ich hier bin – bei Nacht.Weil ich gedacht habe, ich könnte unsichtbar bleiben. Früher war es immer einigermaßen sicher in den Neverlands, ein Ort für Leute wie mich: Ausgestoßene, Schmuggler undVerzweifelte, die am Rand der Dunklen Stadt lebten.
Klar, man hat mir zugesetzt, aber meine Narben haben mir die meisten Leute vom Hals gehalten. Doch die Dinge haben sich zu schnell geändert, ich habe nur nicht wahrhaben wollen, dass es hier jetzt sogar für mich gefährlich ist.
Der Mann vor mir pfeift irgendjemandem zu, plötzlich sind drei Männer da, von denen einer den Zugang zur Brücke auf der anderen Seite des Daches versperrt. Ich sitze in der Falle.
Auf einmal scheint mich die Nacht mit Haut und Haar verschlingen zu wollen. Das Messer schwingend versuche ich, mir Platz zu schaffen.
Und ich verfluche mich dafür, die Insel nicht heute Nachmittag verlassen zu haben. Ich hätte einfach weiter über die Brücke gehen und mich niemals umschauen sollen.
Die Männer kreisen mich ein, kommen immer näher. Ich lasse den Blick über die Dächer gleiten, auf der Suche nach einem Ausweg . A ber da ist nichts.
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