Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
»Ich würde sagen, soll er doch kommen.«
Ich konzentriere mich so auf die R ekruter, dass ich nicht bemerke, wie jemand den Raum betritt und sich an derWand entlangschleicht. Erst als er den Mund aufmacht, begreifen alle, dass er da ist.
»Das lässt sich machen«, ruft Catcher, die Machete fest in der Hand.
38
E inen Moment lang herrscht Stille, dann fängt mein Herz an zu rasen. Die Erleichterung, die mich durchströmt, lässt mich schwindeln. Die meisten R ekruter sitzen einfach mit halb zum Mund geführten Händen voller Essen da und schauen zu, wie Catcher auf den Käfig zugeht.
Er wirkt beinahe ruhig, doch ich kann sehen, dass sein Körper vorWut zittert. Ich presse die Lippen zusammen und widerstehe dem Drang, ihm etwas zuzurufen.
»Euch ist klar, dass eure Leben nichts bedeuten, ja?«Wut schwingt in seiner Stimme mit. Er wirkt unglaublich bedrohlich, und zum ersten Mal begreife ich, was er gemeint hat, als er sagte, in ihm stecke ein Ungeheuer.
»Ihr wisst, ich könnte jeden einzelnen von euch töten, sofort, auf der Stelle, und niemanden würde das kümmern.« Er schaut die R ekruter an, durchbohrt jeden einzelnen mit seinem Blick. Ein paar rappeln sich hoch und stolpern hastig davon. Er hält sie nicht auf.
Aber Conall bleibt mit vor der Brust verschränkten Armen stehen und versperrt die Käfigtür. »Dass du immun bist, heißt ja nicht, dass du unbesiegbar bist«, sagt er.
Catcher lacht, ein schreckliches Geräusch voller Bitterkeit undWut. »Was dich betrifft, heißt das, ich bin Gott.« Mit gesenktem Kopf geht er auf Conall los. »Ich entscheide, wer was zu essen bekommt und wer nicht. Ich entscheide, wer lebt und wer stirbt. Ich bin es, der jedes Urteil fällen kann.«
Conall will Einwände erheben, doch Catcher hindert ihn daran. »Du willst mich herausfordern? Willst du zu Ox gehen und ihm sagen, was hier vorgeht? Willst du ihm erzählen, warum keiner von euch je wieder Essen oder Sachen vom Festland bekommen wird?«
»Ha!« Conall verdreht die Augen und will sich nicht geschlagen geben. »Du bringst Sachen wegen deiner blöden Frauen. Du kannst ihnen kein Essen geben, ohne uns etwas zu bringen.Wenn du dich weigerst, bieten wir ihnen keinen Schutz mehr.«
»Und was für eine Art Schutz ist das hier?«, brüllt Catcher und tritt gegen eine Bank. Sie kippt um, das alte Holz bricht. »Du glaubst nicht, dass ich dich an Ort und Stelle töten kann? Dass ich dir das R ückgrat brechen und deine Leiche von den anderen wegräumen lassen würde?«
Conall schüttelt den Kopf, aber ich bemerke, wie die Farbe aus seinem Gesicht weicht.
»Erklär mir mal«, fährt Catcher fort und kommt näher, »warum irgendjemand sich die Mühe machen sollte, mich davon abzuhalten, dich umzubringen. Erklär mir mal, warum mir irgendetwas an dir liegen sollte. Glaubst du wirklich, dass du denen irgendetwas bedeutest?Wenn sie zwischen dir und mir wählen könnten, glaubst du dann wirklich, sie würden dich wählen?«
Catcher steht mittlerweile nur noch Zentimeter vor Conall, er starrt ihn an wie ein Tier seine Beute. Der R ekruter ist unbewaffnet, kann sich nicht verteidigen, trotzdem ballt er die Fäuste.
»Du hast gesehen, was passiert ist, als einer von deinen Leuten einen von uns getötet hat«, erwidert Conall. »Du weißt, Ox hält immer zu seinen Männern. Er wird zu mir halten.«
Catcher knurrt furchteinflößend.
»Catcher«, warne ich ihn leise, er soll nichts tun, was er später bereut.
»Das ist die Frau, die ich liebe«, sagt er und zeigt mit der Machete auf mich. »Sie ist mein Leben, und wenn du sie verletzt, verletzt du mich.« Er atmet laut und kämpft darum, die Fassung zu bewahren.
»Catcher«, wiederhole ich, ich versuche ihn mit meiner Stimme zu binden. Er soll dieWut abstreifen, die sein Urteilsvermögen trübt. Er soll begreifen, was er da tut – es wäre Mord.
Und dann entspannen sich Catchers Schultern kaum merklich. Doch Conall muss es auch bemerkt haben, er scheint sich sicher zu fühlen, denn er lächelt ein wenig. »Das ist jetzt unsereWelt«, sagt er. »Daran gewöhnst du dich besser.«
Catcher starrt ihn an. »Nein, so ist das nicht«, erwidert er traurig. »Du hast Annahs Gnade nicht verdient, und meine bekommst du auch nicht.« Die Muskeln an seinem Arm zucken, als er mit der Machete ausholt. Die Klinge ist scharf, der Schnitt sauber und durchtrennt glatt Arterien, Luftröhre und R ückgrat. Ich schreie auf und schlage die Hände vors Gesicht, doch es ist zu spät.
Ich
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