Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
»Manchmal frage ich mich, ob das vielleicht alles deshalb passiert ist. Vielleicht war nicht genug Gutes in derWelt – und das war der Grund für die R ückkehr. Die Menschen sind gierig und selbstsüchtig geworden und wollten an ihrem Leben festhalten und nicht loslassen, wenn ihr Ende kam.«
»Ich weiß nicht, was der Grund für die R ückkehr war«, antworte ich. »Wenn sie auf das ewige Leben aus gewesen sind, haben sie ihre Sache nicht gut gemacht.Wer will denn leben wie sie?« Ich zeige auf Noell und Jonah. »Und wer will so leben wie wir?«
Sie hustet wieder, laut und gemein. Noell geht wieder zu ihr. »Und denk nur«, sagt sie und rappelt sich auf, damit sie ihm ausweichen kann. »Wie oft habe ich meinen Mann von mir weggestoßen und mich wegen irgendeiner Kleinigkeit mit ihm gezankt, dabei hätte ich ihn enger an mich heranziehen müssen. Ich hätte dankbar sein müssen für jedenTag, den er gesund an meiner Seite gewesen ist.«
Ich mache die Augen zu, ich mag mir nicht ansehen, was sich im Käfig abspielt. Und doch höre ich ihr leises Wimmern. Höre das Stöhnen ihres Ehemannes und das Schlurfen ihrer Füße. Wie viel länger kann sie wohl noch aushalten? Er wird nämlich ewig weitermachen.
Ich höre ein Knirschen und Schnappen und sehe wieder zu ihr. Sie hat sich mitten im Käfig über Noell gebeugt. Eins seiner Knie ist völlig verdreht. Jetzt schluchzt sie ganz offen. »Es tut mir so leid, mein Schatz, so leid.« Sie tritt ihm mit dem Fuß in den Nacken und schreit dabei vor Schmerz.
Ein paar Mal muss sie zutreten, aber schließlich knackt es, sein Genick bricht, er verstummt und rührt sich nicht mehr. Sie humpelt auf den anderen Ungeweihten zu, der noch immer versucht, zu mir zu gelangen. Brutal und effizient verdreht sie ihm das Knie, und als er fällt, bricht sie ihm ebenfalls das Genick.
Atemlos halte ich mir die Hand über den Mund, als ob ich das Knacken der Knochen so dämpfen könnte.
Sie lässt sich auf die Knie fallen und steckt die Finger durch die Gitterstäbe. Ich sehe ihreTränen durch den Schmutz und das Blut auf ihrem Gesicht. Ich sehe sogar die Bissspuren an ihrem Arm.
»Ich konnte sie doch nicht so zurücklassen«, sagt sie, als würde sie mich um Absolution bitten. »Ich konnte ihren Anblick in diesem Zustand nicht mehr ertragen.«
»Schon in Ordnung«, antworte ich, denn ich weiß, dass das dieWorte sind, die sie jetzt hören will.
Sie nickt, aber ob sie mir zustimmt oder in ihrem Kopf irgendein Gespräch führt, weiß ich nicht. »Sie wollten so sein . A lle Soulers wollen das letzten Endes . A ber ich konnte das nicht mitansehen. Ich konnte nicht zulassen, dass sie jemanden verletzen. Sie waren beide so …« Sie stützt den Kopf auf den Arm, als ob ihr die Kraft fehlt, ihn weiter hochzuhalten. »Sanft«, sagt sie.
Mit der anderen Hand packt sie das Gitter und rüttelt daran, das Geräusch hallt durch das leere Auditorium. »Sie waren gute Männer«, brüllt sie. »Vergiss das nicht, Annah. Sie waren anständig und liebevoll.«
»Mach ich«, antworte ich. Meine Stimme kommt mir so klein vor angesichts ihrer Raserei. »Ich werde mich an sie erinnern.« Es gibt so viele Menschen, an die man sich erinnern muss, denke ich.
Sie sagt nichts mehr. Sie kniet einfach da, hält sich am Gitter aufrecht und starrt auf das, was einst der Mann war, den sie geliebt hat.
37
E igentlich bin ich mir nicht sicher, wie man die letzten Augenblicke seines Lebens verbringen sollte. Ich weiß nicht, ob ich beten oder zurückblicken, ob ich weinen oder meine diversen Fehler und Fähigkeiten auflisten sollte. Sollte ich traurig sein, weil ich nicht die Gelegenheit hatte, mich von meiner Schwester, Elias und Catcher zu verabschieden? Oder erleichtert, weil ich mich nicht länger ums Überleben sorgen muss?
Mit angezogenen Knien hocke ich in meinem Zwinger und schaue hoch zu Dove in ihrem Käfig. Sie sitzt in der Mitte, im Schneidersitz, ihre Lippen bewegen sich unhörbar . A b und zu kriecht sie zu Noell und hält seine schlaffe Hand.
Schließlich legt sie sich hin. Den R ücken an seiner Brust, den Kopf unter seinem Kinn zieht sie seinen Arm quer über ihren Leib.
Ich muss wegschauen. Ich kann es nicht ansehen, dieses gebrochene Genick, das so verdreht daliegt. Wie lange mag sie hier drinnen bei den Ungeweihten überlebt haben? Wie lange werde ich überleben? Wie viel Kampfkraft steckt noch in mir?
Ich stelle mir vor, dass ich nicht betteln werde, befürchte aber, dass ich am Ende laut
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