Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
seinen Hals gefallen, als er lachend den Kopf zurückwarf. Er ist größer als ich, das weiß ich. Ich kann mir seine breiten Schultern vorstellen und die langen Finger, die er um die Arme der ungeweihten Frauen gelegt hatte.
Die Übelkeit erfasst mich vollends, immer schneller wirbelt die Schwärze um mich herum. Mein Magen dreht sich um, ich schlucke und presse die Hand fester auf den Mund, damit ich mich nicht übergebe. Die Dunkelheit ist zu schwer. Ich habe das Gefühl zu ertrinken.
Ich kann sein Blut riechen, ich fühle, wie es auf meiner Hand trocknet und rissig wird. Ganz hinten auf der Zunge schmecke ich etwas Metallisches. Ich krümme mich, würge.
»Annah«, ruft Catcher und stürzt auf mich zu. Er legt mir den Arm um die Schulter, und ich lasse mich fallen … in seine Stärke … meine Beine sind gefühllos, die Finger werden taub.
Wieder würge ich, mein R ücken zuckt, ich habe Speichel im Mund, an dem ich mich verschlucke. Keuchend ringe ich nach Luft, mein Körper scheint zu schweben.Vor meinen Augen tanzen helle Flecken, sie sind fast schon schön, wie Sterne, die von der dunkleren Leere verschluckt werden.
»Annah«, brüllt Catcher wieder und drückt mich an sich. Ich gleite an ihm hinab, falle auf den Boden, dabei schwankt und schaukelt dieWelt, bis ich schließlich nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Mein Kopf brüllt vor Schmerz, mein Schädel ist zu klein und kann das nicht alles fassen.
Er legt mich auf den R ücken und streicht mit den Händen über meinen Körper, über Arme und Beine und an meinem Hals entlang, bis er am Ende mein Gesicht zwischen seinen Händen hält. Ich spüre seinen Pulsschlag auf der Haut, heiß. Meine Lider flackern, die Hitze ist so schön. Darauf kann ich mich konzentrieren. Darin kann mich zusammenrollen, während die Kälte nadelspitz meinen Körper durchbohrt.
»Mein Blut«, sagt er. Er beugt sich über mich. Ich spüre seinen Atem, schmecke dieVerzweiflung in seiner Stimme. »Hast du es berührt?« Er hält mein Gesicht fester. »Annah, das ist wichtig. Ich muss es wissen.«
Ich verdrehe die Augen, aber es spielt keine R olle. Sie sind sowieso nutzlos. Die Farben, die in meinem Kopf herumtanzen, sind mir viel lieber. Ein dichter Nebel legt sich um mich, der den Schmerz dämpft und mich zumTräumen lockt.
»Annah!« Catcher ruft mich, seine Stimme ist laut, doch so weit weg. Sie gleitet am Rand meines Bewusstseins dahin, vermischt sich mit dem Rauschen desWassers und dem Heulen des Windes. Ich will die Hand an seineWange legen. Ich will ihm sagen, dass alles gut ist. Dass es schön ist, hier in meinem Kopf, und es tut auch nicht weh . A ber stattdessen lasse ich die schwarzenWellen über mir zusammenschlagen und mich nach unten ziehen.
6
E s ist hell, als ich aufwache. Ein Feuer prasselt. Über mir wölbt sich eine gemauerte Decke, deren Ziegel ein kunstvoll verschachteltes Muster bilden. Die Flammen werfen Orange und Gelb darüber, Schatten dehnen sich und brechen. Durch einen kleinen Schacht kräuselt sich der Rauch und verschwindet in der Leere.
Wir befinden uns immer noch unter der Erde in einer alten U-Bahnstation irgendwo in den Neverlands. Ich liege auf dem Bahnsteig, den Quilt aus meinem R ucksack über mich gebreitet, dessen Geruch vertraut und tröstlich ist. Mein Kopf rollt zur Seite, und ich zucke zusammen, weil ein dumpfer Schmerz in meinem R ückgrat pulsiert.
Der Fremde, Catcher, sitzt auf der anderen Seite des Feuers. Er starrt ins Leere und ist so tief in Gedanken versunken, dass er nicht merkt, dass ich wach bin. Ich betrachte ihn: ein markantes Kinn, blonde Haare, braune Augen, die so dunkel sind, dass sie unergründlich wirken. Er hat die Knie angezogen und die Arme darum geschlungen, um den Unterarm ist ein Stück Stoff gewickelt, wo mein Messer ihn bei unserem Sturz geritzt hat. Blutergüsse zeichnen sich schon unter seiner Haut ab.
Er hat irgendetwas an sich, das mir bekannt vorkommt, und ich zermartere mir das Hirn deswegen. Im Allgemeinen gebe ich mich nicht mit anderen Leuten ab, mir ist egal, wie sie aussehen oder wer sie sind. In meiner Umgebung bleiben alle für immer Fremde.
Es ist sicherer so.
Und dann geht mir auf, was es ist. »Du bist der von der Brücke.« Zu spät begreife ich, was das bedeutet. Er ist angesteckt. Ich mustere sein Gesicht und versuche zu ergründen, wie weit er schon ist – wie lange es noch dauern wird, bis er sich wandelt . A ber seine Haut ist rosig und gesund, seine Augen klar. Kein
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