Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
auf.
Dahinter ist nichts als Dunkelheit, aus der die ersten Stufen einerTreppe schimmern, die in die Tiefe führt. Ich rühre mich nicht vom Fleck.
Der Fremde nimmt die Stufen, seine Beine verschwinden in der Schwärze. Ich starre ihn an. Die alten U-Bahntunnel sind nicht sicher, es wäre dumm, ihm hinterherzuklettern. Ich schaue mich um, die Häuser ringsum haben keine Feuerleitern. Mir bleibt dieWahl, ihm entweder zu folgen oder es mit den R ekrutern aufzunehmen, die schon brüllend auf uns zu rennen.
Der Fremde hält mir die Hand hin und nötigt mich in die Dunkelheit. Ich kann dieWahl treffen zwischen einer bekannten Gefahr und einer unbekannten. Ich zögere, versuche eine dritte Option zu finden, aber es gibt keine.
Wie konnte ich nur in diesen Schlamassel geraten? Leise vor mich hin fluchend folge ich ihm. Das Messer stecke ich in dieTasche, damit ich mit den Händen an der Mauer meinenWeg ertasten kann. Der Fremde klappt die Luke hinter uns zu und schließt uns beide in der Leere ein. Einen Herzschlag lang stehen wir still da. Dann hämmern die R ekruter an die Luke, und ohne abzuwarten renne ich dieTreppe hinunter. Der Fremde folgt mir.
Ein scharfer Schmerz strahlt von der Hüfte aus, gegen die der Mann auf dem Dach getreten hat, mein Hals ist ganz wund vom R ennen in der Kälte. Es ist stockfinster, und obwohl ich angestrengt lausche, höre ich nur das Echo unserer hämmernden Schritte und das Pochen meines Herzens.
Unten stoße ich auf ein eisernes Gitter, das den Eingang zu dem alten Bahnsteig versperrt, aber ich finde eine Lücke, schlängele mich hindurch und renne weiter, bis die Dunkelheit mir zu bedrohlich wird. Schließlich werden die Schritte hinter mir langsamer, dann bleibt der Fremde stehen. Ich laufe noch ein Stück weiter, um Abstand zu gewinnen und zu überlegen, wer dieser Mensch sein mag, und wie ich Einfluss nehmen kann auf das, was sich hier abspielt.
Ich versuche die Angst zu verdrängen, aber die Dunkelheit umschließt mich und droht mein Denkvermögen zu ersticken. Ich fange an, mir andere Geräusche als unseren keuchenden Atem einzubilden, Quietschen und Stöhnen und Fleisch, das über Beton geschleift wird. Ich kann nicht mehr zwischenWahn und Wirklichkeit unterscheiden und schüttele den Kopf, damit er klarer wird.
Die Schwärze ist lebendig, sie flüstert mir ins Ohr, streichelt mir die Arme und berührt mein Haar. Sie will meinen Körper umschlingen, mich zu Boden zerren und begraben, und ich bekämpfe sie mit fuchtelnden Armen, bis ich an einerWand Halt finde.
Hier unten ist es nicht sicher. Damals, vor der R ebellion der R ekruter, hat das Protektorat versucht, dieTunnel sauber zu halten. Es wurde patrouilliert und die, die das U-Bahn Netz nutzten, um Schwarzmarktgeschäfte mit den Neverlands zu treiben, wurden verjagt. Doch nicht einmal das Protektorat konnte das ganze Netzwerk vonTunneln überwachen, und man munkelt von eingestürzten Abschnitten, Bereichen, die noch immer voller Pestratten sind, die in totenähnlicher Starre dösen, bis sie Menschenfleisch wittern.
Ich zittere, die Luft hier ist feuchter und kälter als an der Oberfläche, die Wände sind glitschig von halb gefrorenem Kondenswasser. Kaum wahrnehmbare Zugluft streicht über meineWangen. In der Ferne tropftWasser in eine Pfütze, das deutliche Geräusch jedes einzelnenTropfens wird als Echo vielfach von den Wänden zurückgeworfen. Der Atem des Fremden wird ruhiger, doch ich schnappe immer noch nach Luft. Ich höre, wie er sich mir nähert und strecke die Hand aus, zur Abwehr bereit.
Noch immer begreife ich nicht, was auf dem Dach passiert ist. Wie hatte er so unbekümmert mit diesen beiden ungeweihten Frauen herumlaufen können?
Warum hat er sich die Mühe gemacht, mich zu retten? Mich?
»Wer bist du?«, frage ich. Meine Stimme klingt gepresst und viel zu laut, sie prallt von den gefliesten Wänden ab.
»Ich tue dir nichts«, sagt er, viel zu nah klingt es. Ich weiche ein paar Schritte zurück. Die Dunkelheit ist undurchdringlich, aber meine anderen Sinne erwachen. Ich kann ihn riechen, kann den Geruch seines Schweißes mit der Note Angst und Adrenalin wahrnehmen. Ich höre jeden Atemzug.
Ich spüre seine Körperwärme.
»Wer bist du?«, wiederhole ich und bemühe mich, hart und unerschrocken zu klingen.
Er bewegt sich, Stoff gleitet an derWand entlang. »Ich heiße Catcher.« Seine Stimme ist näher als zuvor. Ich mache schnell ein paar Schritte weg von ihm, bis ich mit dem R ücken an ein
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