Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
habe. Mein Fehler ist, nicht nachzuschauen, ob dieWohnung auch wirklich leer ist. Mein Fehler ist, hineinzuplatzen, ohne dieWaffe gezogen zu haben.
Und von der Annahme auszugehen, dass die Leute in ihrer Furcht vor der Horde Wichtigeres zu tun haben, als anderswo einzubrechen.
Am Ende des langen Raumes sehe ich eine Gestalt neben meinem Bett. Mein Herzschlag setzt aus. Ich laufe nicht weiter, habe aber noch so viel Schwung, dass ich ins Stolpern gerate.
Sein Körper ist in Schatten gehüllt, das schwächliche Winterlicht vom Fenster dringt nicht so tief in den Raum, dass ich sein Gesicht erkennen kann. Das Hemd, das einmal schwarz war, ist jetzt ausgefranst und grau, die Manschetten sind zerlumpt. Sein ganzes Gewicht ruht auf einem Bein, die Hände sind zu Fäusten geballt.
»Annah?« Weiße Wolken schweben durch die eisige Luft, als er meinen Namen haucht.
Ich schließe die Augen. Mein Herz soll aufhören zu schlagen und mein Blut nicht mehr fließen, damit nichts mich von dem Genuss ablenken kann, ihn meinen Namen sagen zu hören. Seine Stimme ist so sanft wie die Lippen, die diese Laute bilden.
Es kann nicht wahr sein. Das kann er nicht sein. Im tiefsten Inneren weiß ich es, und ich weiß auch, dass ich noch nie etwas Schmerzlicheres ertragen musste als die Einsicht, dass diese Person in meinerWohnung in Wirklichkeit ein Fremder ist.
Aber nur diesen einen Moment lang möchte ich glauben. Ich will mir vorstellen, dass es sogar wenn die Stadt draußen auseinanderfällt, noch etwas Hoffnungsvolles geben kann.
»Elias«, sage ich.
12
E r sieht mich erstaunt an, undTränen steigen mir in die Augen. Sofort fällt mir auf, wie er sich in den letzten drei Jahren verändert hat, jeder Zug an ihm ist mir vage vertraut. Früher war sein Haar so lang, dass er es hinter die Ohren streichen konnte, jetzt ist es so kurz, als ob ihm gerade erst der Kopf geschoren worden wäre. Drei schwache Kratzspuren ziehen sich über seineWange, wahrscheinlich hätte ich sie gar nicht bemerkt, wenn ich ihn nicht aus nächster Nähe mustern würde.
Mein Herz fängt an schneller zu schlagen, als ich begreife, dass diese Situation real ist.
Elias. Das ist mein Elias. Er ist hier, direkt vor mir. Ich starre ihn an. Seine Knochen stehen hervor. DieWangen wirken hohl, und er hat kaum sichtbare Fältchen zwischen den Augen. Er ist der Junge, der mich verlassen hat und doch jemand ganz anderes. Jemand Neues und Furchteinflößendes.
Plötzlich frage ich mich, welcheVeränderungen er wohl bei mir sieht – bin ich noch das Mädchen, an das er sich erinnert, oder habe ich mich auch so verändert wie er? Ich habe ein unruhiges Gefühl im Bauch, weil er mich so anstarrt, so eingehend betrachtet.
In all meinenTräumen von seiner Heimkehr spielt es sich genau so ab: er und ich allein in derWohnung. Sicher, zusammen.
Er geht gerade auf mich zu, als Catcher ins Zimmer stolpert. Damit er nicht gegen mich prallt, legt er mir die Hand auf den R ücken. Sofort weiß ich, dass er die Anwesenheit eines anderenWesens in derWohnung spürt, denn er stellt sich vor mich und greift nach meinem Arm, will mich zum Fenster ziehen und in Sicherheit bringen.
Verblüfft bleibt Elias stehen. »Catcher?«Verwirrung spiegelt sich auf seinem Gesicht, und Catcher erstarrt.
Und dann, ehe irgendetwas anderes passiert, ehe ich Elias umarmen und mich versichern kann, dass er wirklich hier ist, lebendig und wohlbehalten, packt er Catcher. »Wo ist Gabry?«, will er wissen. Und er schaut an uns beiden vorbei aus dem Fenster, als würde er erwarten, dass sie gleich nachkommt.
Hinter Catchers R ücken versteckt, scheine ich gar nicht zu existieren. Ich trete vor und beobachte, wie Elias Catcher hart an den Schultern packt. Dieser zuckt zusammen, die verbundeneWunde an seinem Oberarm ist ja noch frisch, und befreit sich aus Elias’ Griff.
»Wo ist sie?«, fragt Elias erneut, mit einem Anflug von Hysterie in der Stimme. Ich bin bestürzt über seinen Gesichtsausdruck und diese Panik, die er kaum beherrschen kann.
Ich lege ihm die Hand auf den Arm. »Ich muss sie finden«, sagt er zu Catcher, als ob ich überhaupt nicht da wäre. »Ich habe ihr versprochen, dass ich sie finde.«
Zwischen den beiden knistert die Spannung geradezu. Sie stehen breitbeinig voreinander. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen.
»Die R ekruter haben sie«, erkläre ich.
Einen Augenblick lang schaut er mich verständnislos an, dann fährt er sich mit der einen Hand durchs Haar, mit der anderen
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