Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
Ausstellungsstücken vorübergehen und drängten mich weiter, wenn ich stehen bleiben und etwas genauer betrachten wollte. Plötzlich verursachte ein Mädchen einen Aufruhr. Sie hatte einen Wutanfall, der alle anderen ablenkte und die Schlange ins Stocken brachte, sodass ich plötzlich so viel Zeit zur Verfügung hatte, wie ich wollte, und von einem Raum zum nächsten wandern konnte, um mir genau anzusehen, was es früher gegeben hatte.
Die Wände waren voller Fotos: glänzende Maschinen, die durch dieTunnel schossen, die man U-Bahn nannte, Parks, in denen Familien picknickten, während Kinder sich an Ballons klammerten. Häuser, die wirklich riesig waren, das Licht wurde so gleißend von ihnen reflektiert, dass ich mich fragte, wie die Leute es wohl geschafft haben mochten, nicht zu erblinden.
Alles im Museum machte einen tiefen Eindruck auf mich. Nach diesem Besuch war ich ganz besessen davon, verstehen zu wollen, wie diese Stadt einmal gewesen war. Ich wollte ein eigenes Museum haben – Gegenstände, mit denen ich die deprimierend nackten Wände unsererWohnung schmücken konnte . A ber am allermeisten wollte ich wissen, was mit diesem Ort zur Zeit der R ückkehr geschehen war. Wie mochten die Gerüche und Geräusche damals gewesen sein? Wie hat irgendwas davon überleben können?
Damals war ich zum ersten Mal hinunter in die U-Bahntunnel gegangen, in der Hoffnung, in der Dunkelheit verlorene Spuren von dem zu finden, was einmal war. Ich drang weiter und tiefer vor, als ich durfte – weiter, als noch einigermaßen sicher war, wenn man dieTunnel denn überhaupt sicher nennen konnte.
Die Grube mit dem Stacheldraht war eine Falle aus der Zeit der R ückkehr – ein Gewirr von rasiermesserscharfem Draht, der gespannt worden war, um Ungeweihte zu fangen und zu verstümmeln … und nicht so viele Generationen später ein junges Mädchen.
Mir graut, als ich mich an den durchdringenden Schmerz jeder scharfen Zacke erinnere. Und an Elias’ Panik, als er mich suchen kam und mich blutüberströmt und kaputt fand.
Jetzt stehe ich auf dem Dach, schaue nach unten und habe eine Ahnung davon, wie die R ückkehr gewesen sein muss. R eihenweise ausgebrannte Gebäude, Feuer hat eine klaffendeWunde in den alten Park gerissen. Panikgeräusche, Schreie und das Stöhnen derToten. Der Anblick von durch die Straßen flüchtenden Menschen, die nie wieder sicher sein würden.
Ohne nachzudenken, lasse ich meine Hand in die von Catcher gleiten. Ich brauche einfach etwas Menschliches, an dem ich mich festhalten kann, bei all dem Grauen um uns herum. Seine Finger schlingen sich um meine, drücken fest zu.
Das nördliche Ende der Insel, die Neverlands hinter den Palisaden ein paar Straßen weiter, ist im dichten Rauch kaum noch zu erkennen. Der Wind lässt die Flammen zum Himmel auflodern und treibt dunkleWolken über den Fluss . A lle Brücken zum Festland sind verstopft, vermutlich von Ungeweihten, sie sind so voll, dass Leiber über die Brüstungen fallen und in den Fluss hinunterstürzen.
Aber sie fallen nicht insWasser, denn der Fluss ist eine schäumende Masse vonToten, die sich aufbäumen und versinken, bevor andere und wieder andere ihren Platz einnehmen. Die Leiber schichten sich so dicht aneinander, dass sie schon fast eine feste Fläche bilden, über die man ans andere Ufer gehen könnte. Die Ungeweihten drängen ans Ufer, die Mauern zu beiden Seiten der Brücke sind durchbrochen und eingestürzt und hemmen den Ansturm nicht mal mehr . A m Festlandufer wimmelt es von ihnen, niedergewalzt von so vielen Armen, Beinen, Händen und Füßen brechen Bäume ab und stürzen um.
Über die zwischen den Dächern gespannten Brücken drängen Ströme von Lebenden Richtung Süden. Sogar von hier kann ich sie schubsen und drängeln sehen, sie versu chen die Palisaden zu erreichen, um in die Dunkle Stadt zu gelangen.
Aber die Brücken sind nicht gemacht für eine so große Last und für solche Panik. Sie schwanken, einige reißen, und die Leute darauf stürzen ab in das tosende Meer vonToten.
Denn so sieht es in den Straßen aus: ein Meer vonToten. Leiber fallen auf- und übereinander . A n manchen Stellen drängen sie sich an den Häusern, weil sie an die Menschen heran wollen, die sie im Inneren wittern . A ndere stehen mit erhobenen Armen in Gruppen unter Brücken und warten darauf, dass Lebende auf sie herunterregnen.
Das Schlimmste ist die Flutwelle derToten, die auf die Palisaden zu wogt – langsam und unaufhaltsam. Oben auf der
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