Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
emotionslos klingt das.
»Wir können versuchen, uns etwas anderes zu überlegen.«
Er dreht sich zu mir um. »Es gibt keine andere Möglichkeit, Annah. Sie haben Gabry, und sie sind vor der Horde sicher. Nur wenn sie mich kriegen, können wir alle überleben.«
Ich gehe einen Schritt auf ihn zu. »Vielleicht solltest du mehr an dich denken als an uns.«
Er schaut mich einen Moment lang an, sein Blick streift meine Narben. Ich hebe das Kinn und will nicht wegsehen.
»Vielleicht tue ich das«, sagt er.
Bei diesenWorten fange ich an zu zittern, aber ehe ich ihn fragen kann, was er damit meint, ertönt ein gewaltiges Krachen, und hinter uns erhebt sich ein vielstimmiges Heulen. Ich fahre herum und sehe, dass nur ein paar Straßen weiter ein großer Abschnitt der Palisaden einstürzt, der Schutt staubt bis zum Himmel hinauf, wo er sich mit dem Rauch der vielen Brände vermischt.
Und dann kommen sie, sie stolpern aus der Dreck- und Staubwolke heraus: die Ungeweihten. Zuerst sind es nur ein paar, aber dann werden es mehr und immer mehr, sie wanken über dieTrümmer und überfluten die Straßen. Langsam aber stetig, wie Blut aus einerWunde, sickern sie herein.
Kleine, große, Männer, Frauen. Manche tragen Kleider aus längst vergangenen Zeiten, ihre Leiber sind mitWunden übersät . A ber alle stöhnen mit aufgerissenen schwarzen Mündern . A lle schlagen sie ihre Krallen in die Luft, recken sich, gieren. Manche von ihnen humpeln auf gebrochenen Beinen, abgenagte Arme baumeln bei jedem Schritt von grauen Sehnen.
Es sind mehr, als ich je zählen könnte, und ich weiß, das ist erst der Anfang. Bald wird die ganze Stadt überrannt sein. Ich starre die Flüchtenden an und frage mich, wie wir alle angesichts dieser unvermeidlichen Zerstörung überhaupt so lange haben überleben können.
13
E lias klettert aufs Dach. »Wir müssen los«, sagt er ein wenig atemlos. »Jetzt.«
Ich nicke, kann aber den Blick nicht von der Masse der Ungeweihten lösen.
»Hier entlang.« Elias schnappt sich meine Hand und zerrt mich zu einer klapprigen Brücke, die über die Gasse zum Gebäude gegenüber führt. Durch schmierige Fenster sehe ich Familien, die Kleider und Habseligkeiten inTaschen stopfen und nachWaffen greifen.
Es macht mir Mühe, mich an die Namen zu erinnern, die zu den verängstigten Gesichtern gehören, auch der des kreischenden kleinen Mädchens fällt mir nicht ein, das sich an seine Lumpenpuppe klammert. Ihr Bruder schärft Klingen, während die Eltern in rasender Eile packen. Diese Leute sind meine Nachbarn, ich sehe ihre Gesichter jedenTag, und doch rede ich nie mit ihnen. Es scheint so leicht zu sein, sie zurückzulassen, und das kommt mir irgendwie falsch vor und beunruhigend.
Aber ich weiß nicht mal, ob ich mich selbst retten kann, ganz zu schweigen von anderen.
Wir rennen, um uns herum explodiert die Dunkle Stadt. Überall schwirren Gerüchte herum, die Horde soll den Fluss überquert haben. Schreie mischen sich in das Schrillen der Sirenen, die den Anwohnern den Durchbruch melden . A lles ist in Panik, keiner weiß, was er machen oder wohin er laufen soll.
Die Brücken sind ein einziges Chaos, Leute schubsen sich auf der Flucht vor denToten. Ich sehe Menschen um Hilfe schreiend von den Dächern fallen, während die Ungeweihten langsam die Straßen fluten. Sie krallen sich an Fenster und Mauern, stöhnen und greifen nach allem.
Elias läuft vor mir, ein seltsames, ungelenkes, humpelndes Taumeln, Catcher kommt hinterher, so rennen wir über die Dächer der verfallenden Häuser. Familien klettern die Feuerleitern hoch und schließen sich mit uns den Flüchtlingen an, die zu den Docks im Südosten der Insel strömen. Es wird immer schwieriger, Elias und Catcher im Auge zu behalten und nicht im panischen Getümmel verloren zu gehen.
Lange Schlangen bilden sich vor den Brücken, die zu schmal und brüchig sind, um so viele Leute auf einmal aufzunehmen. Sie wurden vor langer Zeit aus dem Material gebaut, das durch Plünderungen beschafft werden konnte. Menschen sollten die potenziell gefährlichen Straßen meiden und sich über die Brücken zwischen den Dächern hin und her bewegen. Für diesen Ansturm sind sie nicht gemacht.
Manche reißen durch und fallen auseinander, sodass die Leute auf den Stockwerke tiefer liegenden Boden stürzen, wo sie sich schreiend gegen die Angriffe hungrigerToter wehren, die an ihren Gliedmaßen zerren. Ein Biss genügt, und sie werden auch zu Ungeweihten.
Es ist schwer,
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