Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
fasst er sich in den Nacken. Diese Geste ist mir so schmerzlich vertraut. Er geht wieder in den dunklenTeil des Zimmers.
Ich folge ihm und bleibe unschlüssig hinter ihm stehen. »Es ist gestern passiert.« Ich schaue Catcher an, damit er das bestätigt. Nach meiner Bewusstlosigkeit und der langen Zeit in den dunklenTunneln weiß ich nicht mehr, wie viel Zeit eigentlich vergangen ist.
»AmTag davor«, berichtigt Catcher.
»Ich war auf der Brücke und habe gesehen, wie es passiert ist. Sie kamen beide in die Stadt, und die Hunde haben Catchers Ansteckung gewittert. Die R ekruter hatten ihn schon gefasst, aber sie hat lange genug für Ablenkung sorgen können, und er ist entkommen. Dann haben die R ekruter sie mitgenommen.«
Elias steht im hinterenTeil derWohnung, er presst die Stirn an dieWand. Ich will ihm gerade die Hand auf die Schulter legen, will versuchen, ihn irgendwie zu trösten, als er ausholt und so heftig gegen dieWand schlägt, dass seine Faust hindurchstößt.
Erschrocken rufe ich seinen Namen und greife nach seiner Hand. Das Blut rinnt ihm schon über die Handknöchel und verschmiert den rissigen Putz. Noch nie habe ich Elias gewalttätig erlebt, so jedenfalls nicht. Ich habe ihn gegen Ungeweihte kämpfen sehen. Er hat gekämpft, um mich zu beschützen, aber ich habe nie erlebt, dass er Gewalt um der Gewalt willen anwendet.
Wie sehr sich ein Mensch doch in drei Jahren ändern kann.
»Elias.« Ich spreche mit ihm wie mit einem verletzten Tier, das zu beruhigen ist. Er schaut auf, der Schmerz in seinen Augen geht so tief. »Wir finden sie«, sage ich, denn ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll.
Er macht einen Schritt auf mich zu, und dann bin ich in seinen Armen, er zieht mich an sich, als ob wir die vergangene Zeit und die Distanz zwischen uns auslöschen könnten. »Ich habe dich vermisst, Annah«, murmelt er in mein Haar.
Ich lege den Kopf an seine Schulter. Er ist mir so vertraut, und doch merke ich, wie unsere Körper sich verändert haben, wie sie gewachsen sind. Wir passen nicht mehr ganz so gut zueinander wie früher.
»Ich habe dich so sehr vermisst«, sagt er. Ich kann nur nicken, weil meine Stimme brechen würde, wenn ich darauf etwas antworten würde. Dann würde er merken, dass ich meine Gefühle nicht im Griff habe.
Catcher räuspert sich. Er steht am Fenster und schaut auf die schmale Gasse zwischen unserem Haus und der Häuserreihe gegenüber. »Wir sollten uns überlegen, wie es jetzt weitergeht, denn diese Palisaden werden die Mudo nicht mehr lange aufhalten können.«
Ich löse mich von Elias. Plötzlich komme ich mir fehl am Platz vor. Das schmale Zimmer ist zu klein und zu eng mit den beiden großen Männern darin. Elias schaut sich um, sein Blick verharrt mal hier, mal dort, und ich frage mich, welche Erinnerungen ihm wohl durch den Kopf gehen mögen.
»Die R ekruter haben also Gabry mitgenommen, als sie in die Neverlands gekommen ist?«, fragt er. Ich nicke.
»Einer von ihnen hat gesagt, sie würde in den Inneren Bereich gebracht werden.«
Elias gibt derWand einenTritt und knurrt frustriert.
»Aber du bist doch R ekruter«, sage ich. »Kannst du nicht einfach verlangen, sie zu sehen.«
Elias atmet tief durch. »Damit habe ich nicht gerechnet. Es ist nämlich so:Wenn wir zum Inneren Bereich gehen …« Er hält inne und sieht Catcher an. »Dann sitzen wir in der Falle.«
Das verwirrt mich. Der Innere Bereich ist eine kleine Insel im Fluss, und aufgrund ihrer Größe und Lage ist sie sicherer und leichter zu beschützen und zu verteidigen als der R est der Stadt. Das Protektorat hatte früher die Kontrolle über diese Insel, dort haben bis zur R ebellion die meisten wichtigen Leute gelebt, dann ist sie von den R ekrutern unterwandert worden, die die Herrschaft übernommen haben.
Nur die elitären Mitglieder der Gesellschaft durften auf diese Insel – und das ist auch jetzt noch so. »In der Falle? Wie meinst du das?«, frage ich. Die Möglichkeit, an einen sicheren Ort gehen zu können, macht mir Hoffnung. »Wäre der Innere Bereich denn nicht sicherer als die Dunkle Stadt? Da hätten wir doch viel bessere Chancen.«
R uhig und gelassen sagt Elias: »Auf diese Insel können wir nur, wenn wir etwas zumTauschen haben. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«
Ich lasse den Blick zwischen Catcher und Elias hin und her wandern. Hier geht etwas vor, das ich nicht verstehe, ein stummer geistigerWettstreit vielleicht.
»Ich habe ein paar Marken«, antworte ich,
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