Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
»und vielleicht habe ich noch andere wertvolle Sachen, wenn ich nur …«
Elias schüttelt den Kopf. »So etwas wollen sie nicht.«
»Das verstehe ich nicht«, erwidere ich frustriert. »Was können sie denn sonst wollen?«
Elias schaut Catcher an, der schließlich sagt: »Mich. Sie wollen mich.« Er dreht sich wieder zum Fenster um und stützt die Hände aufs Fensterbrett. Seine Fingerspitzen bohren sich in das verrottete Holz.
Elias lässt sich aufs Bett fallen, gedankenverloren reibt er sich das eine Bein, das ihm Scherereien zu machen scheint. Das Schweigen der beiden ist zu viel für mich.
»Jemand muss mir mal erklären, was hier los ist«, sage ich.
Catcher rührt sich nicht.
»Wie viel weißt du?«, fragt Elias.
»Nichts«, blaffe ich.
Er seufzt und reckt den Hals, versucht die Muskeln zu entspannen. »Catcher ist sehr wertvoll«, erklärt er. »Die R ekruter wollen ihn unbedingt haben, weil er immun ist. Das heißt, er kann überall hingehen . A lles machen . A lles besorgen.«
Ich nicke. »Das hat er mir erzählt.«
»Gut . A lso, sie waren hinter uns her, hinter mir, Catcher, Gabry, ihrer Mutter Mary und ihrem Freund Harry, weil sie Catcher haben wollten . A ber sie wollen nicht ihn allein, dann hätten sie nämlich keine echte Kontrolle über ihn. Sein ganzerWert basiert ja darauf, dass er hinausgeht undVorräte holt, aber sie müssen ihm einen Grund geben, auch wieder zurückzukommen . A lso müssen sie Leute einkerkern, die er liebt. Das ist dann die Garantie dafür, dass er immer wieder zurückkehren wird.«
Ich schaue auf Catchers R ücken. Er hat die Schultern hochgezogen. Wieder einmal geht mir auf, was für eine enorme Bürde seine Immunität eigentlich ist.
»Du meinst also, sie werden uns wegen Catcher auf die Insel und in den Inneren Bereich lassen?«, frage ich leise.
Elias antwortet nicht gleich, aber dann sagt er: »Ja. Catcher ist unsere einzige Möglichkeit, an Gabry heranzukommen.«
»Aber du bist R ekruter«, wende ich ein, denn das kann nicht wahr sein. »Die müssen dich doch in den Inneren Bereich lassen.«
Elias schüttelt den Kopf. »Machen sie nicht. Na, vielleicht schon, wenn ich mit ihnen feilsche, aber sie müssen mich nicht aufnehmen. Sie nehmen keinen auf, es sei denn …« Er schluckt und mag mir nicht in die Augen schauen. »Dich würden sie nur auf die Insel lassen, weil du eine Frau bist und sie das ausnutzen wollen. Und ich werde nicht zulassen, dass dir das passiert.«
»Oh.« Ich schaue auf den Boden, ich habe verstanden . A uf den verschrammten Holzdielen liegt eine Staubschicht. Ich war nie besonders gut darin, die Wohnung sauber zu halten. Das Zimmer fühlt sich deswegen irgendwie verlassen an.
Die Geräusche der tobenden Dunklen Stadt wehen zusammen mit dem Rauchgeruch durchs offene Fenster herein. Uns läuft die Zeit davon, in der wir unsere nächsten Schritte planen können. Ich denke an meine Schwester, allein im Inneren Bereich, ohne einen Menschen, der sie beschützt – und das nicht nur vor denToten, sondern auch vor den Lebenden.
»Irgendwas müssen wir doch tun können«, murmele ich. In meinem Kopf läuft alles auf Hochtouren, aber Lösungen fallen mir nicht ein. Ich fühle mich so nutzlos.
Catcher atmet durch. »Gut, gehen wir.« Er steigt auf die Feuerleiter, seine Füße klappern laut über das rostige Metall. »Wir machen den Deal.«
Ich warte auf Elias’ Protest, doch der presst erleichtert die Hände vors Gesicht. Mit gerunzelter Stirn schaue ich ihn an, während Catcher aufs Dach klettert. Irgendwie möchte ich Elias trösten, aber nicht er war es, der sich eben bereit erklärt hat, sich als Köder den R ekrutern auszuliefern.
Ich drehe mich um und renne hinter Catcher her, ich will immer noch eine Lösung für alles finden und scheitere daran. Um uns herum schreitet derVerfall der Stadt fort: dicke Rauchwolken hängen über den Neverlands, Alarmglocken schrillen. Die Menschenmassen, die auf die Docks im Osten drängen, sind weiter gewachsen. Wir können ihr Gebrüll sogar hier noch hören.
Catcher schaut sich um. Ich will ihm sagen, dass er das nicht tun muss, aber es wäre gelogen. Uns beiden ist wichtig, dass meine Schwester in Sicherheit ist, und das ist sie nur, wenn wir ihn ausliefern. Und deshalb frage ich: »Geht es dir gut?«, obwohl das eigentlich unsinnig ist.
Er zuckt mit den Schultern. »Wie ich schon sagte. Wir tun, was getan werden muss, um zu überleben.« Die Luft um uns herum scheint abzukühlen, so
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