Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
dicken Mauer stehen R ekruter aufgereiht, die auf alle schießen, die versuchen hinüberzukommen, ganz gleich, ob es Lebende oderTote sind. Die Ungeweihten drücken sich dagegen, ihr Stöhnen klingt verzweifelt.
Die Schreie der Menschen durchdringen alles. R ufe nach Gnade ertönen, während die R ekruter einen Bolzen nach dem anderen in die Menge schießen, die auf der Suche nach einer zum Durchbruch geeigneten Schwachstelle die Mauer umschwärmt. Immer mehr R ekruter stürzen sich ins Gefecht.
Catcher zieht an meiner Hand, er will mich vom Dachrand wegholen. In dieser Stadt gibt es keinen sicheren Ort, auf der ganzen Insel nicht mehr. Die Ungeweihten können nicht über die Mauer klettern, aber sie drängen sich in so großer Zahl davor, dass sie einfach übereinander weg kriechen können. Wie ein rauschender Fluss, dem sich ein Hindernis in denWeg stellt, werden sie sich über den oberen Rand hinweg in die Dunkle Stadt ergießen, wenn sie die Mauer nicht vorher niederwalzen.
Im Moment mögen wir hier oben außer Gefahr sein, aber lange wird das nicht mehr so bleiben.
Und doch kann ich den Blick nicht vom Chaos der Neverlands losreißen. Feuer vertilgen die Brücken, fressen sich an alten Seilen entlang, springen von einem Gebäude zum nächsten über, wüten in kastenförmigen Bauten und lassen die letzten verbliebenen Fensterscheiben explodieren. Flammen prasseln und zischen, wenn sie trockenen Zunder finden.
Ich schaue auf die Dunkle Stadt hinter uns, die wie ein Spiegel der Neverlands ist: Brücken voller Leute, die auf völlig überladene und überlaufene Docks zu halten. Boote liegen im Fluss, einige sind halb leer, andere kentern unter dem Ansturm der vielen, die an Bord klettern wollen. Leute tauchen in das halb gefroreneWasser ab und schwimmen verzweifelt auf alles zu, das dort treibt.
Mir schnürt sich der Magen zu, Säure steigt mir den Hals hinauf, als ich begreife, wie fatal die Lage ist. Die Hauptbrücken zum Festland im Norden sind schon von Ungeweihten überlaufen, panische Flüchtlinge geben sich dem Ansturm geschlagen. ImWasser wimmelt es vonToten, es sind so viele Leichen, die Nachströmenden könnten über sie hinweg weglaufen, ohne unterzugehen.
»Wir müssen meine Schwester finden«, sage ich schließlich. Der Gedanke an sie reißt mich aus dem Grauen des Geschehens und gibt mir ein Ziel, etwas, auf das ich mich konzentrieren kann, damit mich dieWelle der Panik nicht mitreißt.
»Wie?« Catcher steht vor mir. Er sieht so hilflos aus, wie ich mich fühle.
»Weiß ich nicht.« Ich laufe über das Dach, um alte, öde Gärten herum, die von vertrocknetem Unkraut überwuchert sind. Über eine niedrige Mauer springe ich zum nächsten Gebäude und halte auf die Brücke am Ende des Häuserblocks zu.
»Wo willst du hin?«, ruft Catcher, der mir über die schmale Brücke folgt. Die Bretter unter meinen Füßen sind schon fast verrottet.
»Nach Hause«, rufe ich ihm über die Schulter hinweg zu, während ich nach Süden renne. Diese Ecke der Stadt war praktisch verlassen, schon vor Eintreffen der Horde. Die meisten, die einst hier ihr Dasein fristeten, sind bereits nach der R ebellion weggegangen. Damals war es sinnlos geworden, für das Leben in einer Stadt hohe Abgaben zu bezahlen, die weder Sicherheit noch Ordnung bieten konnte.
Ein paar panische Familien laufen uns über denWeg. Beladen mitTaschen vollerVorräte eilen sie von Dach zu Dach auf die Docks im Südosten zu – ihre einzige Hoffnung zu entkommen. »Was sollen wir denn machen?«, fragen sie uns verängstigt . A ber ich weiß nicht, was ich ihnen sagen soll, also renne ich einfach weiter.
Sie müssen sich nur umsehen, dann wird ihnen schon klar werden, wie hoffnungslos die Lage ist.
Das Gebäude, in dem meineWohnung liegt, ist ein altes Hochhaus. Früher gehörte es zu einem größeren Komplex, von dem die Hälfte vor ein paar Jahren eingestürzt ist. Danach sind alle anderen Leute weggezogen, und ich bin als einzige Bewohnerin übrig geblieben. Bäume kämpfen sich schon durch den Schutt hindurch, winterkahle Ranken winden sich durch Räume, die jetzt den Elementen preisgegeben sind.
Ich renne übers Dach, am Rand meines Gartens entlang. Es spielt ja keine R olle mehr, ob ich die zarten Schösslinge nun zertrampele oder nicht. Über die Feuerleiter laufe ich hinunter in den fünften Stock und steige durchs Fenster.
Mein Fehler ist, dass ich gedacht habe, es würde alles noch so sein, wie ich es vor ein paarTagen verlassen
Weitere Kostenlose Bücher