Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
Dass er mich getragen hat, war kein zärtlicher Moment, es musste einfach getan werden.
In diesem Dasein geht es nicht um Gefühle, das weiß ich eigentlich besser als sonst jemand. Es geht darum, lebend durchzukommen.
Wieder schlinge ich die Arme um mich, bohre die Finger in die Schultern, um seine Hitze noch eineWeile zu bewahren. Meine Hosen sind durchweicht und schwer, meine Füße taub. »Jetzt sollten wir weit genug in der Stadt sein«, sage ich und weise mit einer Kopfbewegung auf dieTreppe, die in die Dunkelheit hinaufragt.
Er geht auf sie zu, die Fackel immer noch fest im Griff. Ich ziehe die Machete aus dem Gürtel und folge ihm. »Wenn wir oben sind, müssen wir uns die nächste Feuerleiter suchen und zu den Brücken hochklettern«, sage ich. »Wenn wir von dem ausgehen, was wir in den Neverlands gesehen haben, wird es nicht mehr lange dauern, bis sie die Palisaden durchbrechen … wenn sie es nicht längst getan haben.«
Er sagt nichts, nickt nur wieder und nimmt zwei Stufen auf einmal, ich muss mich beeilen, damit ich nicht im Dunkeln zurück bleibe. Meine Schenkel fangen bald an zu brennen, ich bin erschöpft und amVerhungern, schleppe mich aber in meinen triefend nassen Kleidern hinter ihm her.
Wenigstens kann die körperliche Anstrengung die Gedanken unterdrücken, die mir im Kopf kreisen … wie es sich angefühlt hat, als ich mich an seinen R ücken gedrückt habe, wie er gerochen hat – und dass er höchstens fün f Worte mit mir gewechselt hat, seit er mich losgelassen hat.
Als wir schließlich die Eisentür zur Straße erreichen, bin ich bereit, all das hinter mir zu lassen und mich dem zu stellen, was mich draußen erwartet. Das ist auch nötig.
11
C atcher schiebt sich als Erster durch die Tür. In den Straßen herrscht Panik. Er bleibt kurz stehen, und ich renne an ihm vorbei auf die nächste Feuerleiter zu, die gerade eben außerhalb meiner R eichweite ist. Er drängt mich zur Seite und zieht sie hinunter, bevor er mich die Sprossen hinauf nach oben treibt.
Um uns herum ist die Stadt in Aufruhr, Leute brüllen, Glocken läuten. Es riecht nach Rauch, und was ich oben vom Dach aus sehen werde, macht mir jetzt schon Angst.
ÜbelriechendesWasser läuft mir beim Klettern von Sprosse zu Sprosse die Beine herunter und tropft sicher auf Catcher, der mir zumTreppenabsatz hinauf folgt. Dort bleibe ich stehen, packe die Machete fester und will weiter hochsteigen, als Catcher mich zur Seite drängt und die Führung übernimmt. Unsere Schritte erschüttern die rostigen Metallstufen.
»Weißt du, ich kann auf mich selbst aufpassen«, blaffe ich seinen R ücken an . A ls Antwort darauf verkrampfen sich seine Schultern, doch er geht weiter. Oben zögert er und späht über eine steinerne Balustrade, die früher mal kunstvoll gewesen, jetzt aber verfallen ist. »Freie Bahn«, sagt er. Dieses Mal kann er sich ohne viel Mühe mit beiden Armen aufs Dach hinaufziehen.
Ich lande mit einem schmatzenden Geräusch neben ihm,Wasser quillt aus meinen Schuhen.Von hier habe ich einen klaren Ausblick auf die Dunkle Stadt ringsum und die Neverlands dahinter. Oder besser, auf das, was davon noch übrig ist.
Nachts, wenn ich nicht schlafen konnte, habe ich mir immer vorgestellt, wie diese Stadt vor der R ückkehr gewesen sein mag. Es gab immer noch ein paar Gegenstände aus jener Zeit. Das Protektorat hat früher ein altes Gebäude als eine Art Museum genutzt. Zu sehen, wie das Leben früher war, sollte uns vermutlich als Ansporn dienen, noch härter für eine ähnliche Zukunft zu arbeiten.
Einmal hat Elias mir eine Eintrittskarte fürs Museum zum Geburtstag geschenkt. Ich weiß noch, wie ich mir amVorabend die Haare gewaschen und eingeflochten hatte, weil mein Haar am nächsten Morgen nach dem Öffnen der Zöpfe wie ein Glorienschein sein sollte. Ich war nervös, ich würde nämlich allein ins Museum gehen, weil Elias seine Marken nicht für zwei Karten ausgeben wollte, und ich weiß noch, wie ich an meinen Haaren gespielt habe, als ich in derWarteschlange stand.
Damals habe ich noch an das Protektorat geglaubt. Geglaubt, dass sie uns sagten, was das Beste für uns und unsere Art zu leben war . A n den Türen des Museums standen R ekruter, ihre schwarzen Uniformen wirkten so sauber und frisch im Dreck der Stadt. Das war lange vor der R ebellion, sie waren damals so etwas wie unsere majestätischen Beschützer – man respektierte sie und vertraute ihnen.
Sie ließen die Besucher schnell an den
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