Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
ist denn los?«, blafft Elias.
Er will sie aufhalten, doch vergeblich. Sie gehen von Zimmer zu Zimmer, bis sie meine Tür aufstoßen. Ich stehe angezogen da und schlüpfe schon in den Mantel.
Meine Schwester drängt sich an ihnen vorbei, sie keucht, als sie mich sieht, und schreit: »Annah!Was ist passiert?Was ist los?«
Ich habe mein Spiegelbild schon im Fenster gesehen:Verschorfte Kratzer ziehen sich hinter meinem Ohr entlang; wo das Haar ausgerissen wurde, sind kahle Stellen. Bevor ich ins Bett gegangen bin, habe ich den R est auch noch abgeschnitten, mir war es lieber so, als wenn ich die letzten Strähnen auf denWangen gespürt und gewusst hätte, dass mein Haar die Narben nicht mehr bedecken kann.
Conall führt die R ekruter an. Ich funkele ihn wütend an, und er grinst eiskalt. »Du wirst zahlen.« Er hebt die Hand, als wolle er mich schlagen, und Elias springt vor und hält seinen Arm fest.
»Was ist los?«, brüllt er. Er will für Ordnung sorgen, aber andere R ekruter haben sich schon in den Raum gedrängt, mich gepackt und in den Flur geschleift. »Was soll das?«
Ich wehre mich nicht, aber sie zerren trotzdem an mir und grinsen über mein gequältes Ächzen. Conall erzählt Elias und meiner Schwester von dem Mann, den ich gestern umgebracht habe, und Elias brüllt, er werde mit Ox reden und die Sache ins R eine bringen.
Die genüssliche Boshaftigkeit in Conalls Stimme ist unverkennbar, als er sagt: »Ox hat uns diesen Befehl gegeben.«
27
S töhnen ist zu hören, als Conall mich zur Seilbahnrampe schleift und mir eine Schaufel mit einem scharfen Blatt in die Hand drückt, so eine, wie die Soulers letzte Nacht auch bei sich hatten. Mein Magen verkrampft sich vor bösenVorahnungen, aber ich lasse es mir nicht anmerken.
Ox steht an der Strickleiter, die zum Ufer an der ungeschützten Seite desWalls hinunterführt, der den Inneren Bereich umgibt. Unten stolpern Ungeweihte herum, die sich nach uns recken und mit den Armen in der bitteren Kälte herumfuchteln. Ihre Finger, sofern sie noch welche haben, sind rot und wund, die Gesichter vom Eis zerkratzt.
Eis wühlt den Fluss auf, gefrierendesWasser knackt und schwappt an den Ufern. Ich kann die Leiche des R ekruters im seichtenWasser ausmachen, seine Haut ist schon verfärbt und aufgedunsen.
Einige Boote mit Flüchtlingen aus der Dunklen Stadt treiben außerhalb der Schussweite der R ekruter dahin. Die Leute rufen nicht mehr um Hilfe und bitten auch nicht mehr darum, ans Ufer gelassen zu werden, sie beobachten uns nur mit verzweifelten Blicken. Unmöglich zu sagen, wie lange es dauern wird, bis die Ungeweihten aus der Dunklen Stadt quellen und den Fluss füllen werden, um am Ende auch den Inneren Bereich zu stürmen.
Elias rennt auf die Rampe, seine Schritte dröhnen auf dem alten Holz. »Was ist los?«, ruft er. Sein Gesicht ist violett vorWut. »Das könnt ihr nicht machen!«
Ox dreht sich zu ihm, sein Gesicht ist ausdruckslos. Er zeigt auf den enthaupteten R ekruter. »Sie hat einen meiner Männer getötet, und das hat Konsequenzen.«
Elias bleibt stehen, er atmet so schnell, dass sich Wölkchen vor seinem Gesicht bilden. Seine Lippen sind blau. »Was? Annah könnte niemanden töten!«
Alle starren mich an. Lügen ist sinnlos, sie kennen dieWahrheit, soviel ist klar.Trotzig recke ich das Kinn. »Er hat mich angegriffen«, zische ich Ox entgegen. »Ich habe mich verteidigt.«
Mein Geständnis ist alles, was Ox braucht, um mich auf die Leiter zuzuschieben. »Es ist nicht meine Schuld, dass du deine Leute nicht unter Kontrolle hast. Er hat mir die Haare ausgerissen, er hat es verdient.«
Ox zögert. Elias springt vor und versucht mich zurückzureißen, ich werde zwischen den beiden Männern hin und her gezerrt.
»Du darfst ihr nicht wehtun«, sagt Elias. »Denk an Catcher.«
Unter uns recken sich die Ungeweihten stöhnend und drücken gegen die Mauer.Weitere werden angespült, ihre aufgeblähten Körper sind fast gefroren. Still und stumm liegen sie da. Irgendwann werden sie sich aufrappeln, weil sie nach den Lebenden gieren.
Mit finsterer Miene höre ich Elias und Ox streiten. Ich weiß schon, was dabei herauskommen wird, Ox hat mehr als einmal bewiesen, dass er keine Gnade kennt.
»Sie wird nicht getötet«, versichert er Elias. Ich schnaube verächtlich, obwohl ich innerlich erleichtert bin. »Sie wird arbeiten müssen.« Mit der Hand zeigt er aufs Flussufer. »Wir brauchen sowieso jemanden, der das tagsüber sauberhält.«
Wieder
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