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Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan
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die Pestratten an.
    Ich ziehe die Klinge durchs Haar, säge so heftig und so schnell ich kann. Schließlich sind nur noch ein paar Strähnen übrig, die an denWurzeln ausreißen. Der qualvolle Schmerz bringt mich zum Würgen.
    Der Mann fällt, ich höre seinen Aufprall. Heißes, klebriges Blut läuft mir das Ohr hinab, als ich mich über den Rand der Rampe beuge. Mein ganzer Körper zuckt, ich schlinge die eisige Nachtluft in mich hinein und fürchte mich vor dem, was ich sehen werde.

26
    D ie Feuer auf der Insel und die Sterne am Himmel spenden gerade so viel Licht, dass ich ihn ausmachen kann. Er jammert in Todesqualen, als eine Horde Leichen langsam auf ihn losgeht. Ein paar Blutstropfen fallen von meinen Fingern auf die Menge, und alle recken die Köpfe in meine Richtung, mit feuchten, rot beschmierten Mündern.
    Sie wanken auf die Mauer zu, ihre Finger schrammen am Stein entlang, Nägel brechen und Haut wird zerfetzt, als sie gegen denWall drücken, der sie nicht ewig zurückhalten wird.
    Noch ein paar Ungeweihte mehr taumeln aus der Dunkelheit heran. Sie fallen aufeinander, kriechen übereinander weg . A lle starren mit milchig blauen Augen zu mir hoch, recken sehnsüchtig mit offenen Mündern die Finger nach mir.
    Ich reiße mich los, halte mir die Ohren zu, schüttele den Kopf, trotzdem kann ich sie noch hören. Das Geräusch ist überall.
    Vorsichtig taste ich über die R este meines einstmals langen Haars. Die kalte Nachtluft hinter den Ohren und am Hals fühlt sich so fremd an. Ohne den langen Pony, der wie eine Gardine über mein Gesicht hing, bin ich so furchtbar ungeschützt. Ich raffe Schnee zusammen, mit dem ich den pochenden Schmerz in meiner Kopfhaut betäube, ziehe den Schal des R ekruters von der R eling und wickele ihn mir um den Kopf.
    Mehr kann ich nicht tun, also stehe ich auf. Und da sehe ich eine Gestalt am Ufer entlanggehen. In der Dunkelheit könnte man sie für einen Ungeweihten halten, doch die Schritte sind so zielgerichtet, es muss ein lebender Mensch sein – man muss allerdings verrückt sein, wenn man auf der falschen Seite der Mauer herumläuft, ohne Schutz vor denToten.
    Ich ziehe mich in die Dunkelheit zurück und mache mich ganz klein, während sich die Gestalt der Rampe nähert. Doch dann sehe ich, dass es eine kleine Gruppe von Menschen ist, die da herankommt, und alle tragen schäbige graue Gewänder unter ihren Mänteln. Soulers. Ihre Gesichter sind mager und erschöpft.
    Was machen sie da draußen?Warum sind sie überhaupt auf der Insel und dann noch auf der falschen Seite der Mauer? Jeder von ihnen trägt eine Art Schaufel mit scharfer Spitze, und ihre Blicke sind starr auf die Gruppe vonToten unter der Rampe gerichtet. Sobald sie sich den Ungeweihten nähern, gehen sie zum Angriff über, schlagen die Pestratten nieder und trennen die Köpfe von den Leibern.
    Ihre Bewegungen sind wirkungsvoll, denn nach und nach lassen sie das Stöhnen verstummen . A ls sie beim R ekruter angekommen sind, will dieser sich bemerkbar machen, doch er hat so viel Blut verloren, dass er zu schwach ist.
    Noch ist er nicht tot. Noch hat er sich nicht gewandelt. Zwei der Soulers zucken mit den Schultern und treiben ihn auf den Fluss zu, als könnte das eisigeWasser seinenTod beschleunigen. Der dritte Souler hockt sich hin und beobachtet, wie der R ekruter zuckt und würgt, während Blut aus seinem Mund quillt.
    Ich beobachte den Mann auch. Er war grausam zu mir. Er hätte mich mit nach unten gezerrt oder Schlimmeres, und doch ist es fast zu viel für mich, ihn so zu sehen. Es ist fast zu gnadenlos.
    Das macht mich genauso schlimm wie sie.
    »Hört auf damit«, rufe ich.
    Der Souler steht auf und dreht sich zu mir um. Mein Herz gerät ins Stolpern, mein Verstand versucht fieberhaft das bekannte Gesicht einzuordnen. Und dann erinnere ich mich wieder an ihn: Das war der Junge, der Amalia begleitet hatte. Der versucht hatte, sie vor den R ekrutern zu schützen.
    »Was machst du da? Was ist los?« Ich krieche an die Kante der Rampe, damit die anderen R ekruter uns nicht hören.
    Die Augen des Jungen sind tot, die Schultern hängen. Er schaut sich nach dem R ekruter um, der im eiskaltenWasser zappelt und blau anläuft. »Ich warte darauf, dass er stirbt und sich wandelt, damit ich ihn töten kann«, sagt er dumpf.
    Ich will ihn fragen, warum er es nicht jetzt macht, warum er wartet, aber es gibt immer noch eine Grenze zwischen den Lebenden und denToten, zwischen Gnadentod und Mord, und ich

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