Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
seine Augen schließen sich langsam.
»Weg mit ihm«, grunzt Ox.
Vier Männer sind nötig, um den schreienden, sich wehrenden Elias wegzubringen. Währenddessen macht Ox sich über uns breit und versperrt die Rampe der Seilbahn. Meine Schwester gönnt ihm keinen Blick. Sie schießt auf eine weitere Pestratte und bahnt uns einenWeg.
Ich warte darauf, dass Ox irgendein Urteil fällt, aber er starrt mich nur an, die Hände in denTaschen seines dicken Mantels vergraben, so als würde er überlegen, wie er mich am besten erledigen kann. Ich lächele ihn an, kalt und gemein und denke: Das schaffst du nicht. Du kannst mich nicht fertigmachen. Den Gefallen tue ich dir nicht.
Ox kneift die Augen zusammen und nickt, dann wendet er sich den R ekrutern zu, die noch neben der SeilbahnWache stehen. »Bei Sonnenuntergang könnt ihr sie wieder hoch lassen«, sagt er. »Eher nicht.«
Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll, aber es kann nichts Gutes sein, denn einer der R ekruter reißt die Augen auf und schaut mich besorgt an. »Da am Horizont zieht ein Schneesturm auf. Bis heute Nachmittag ist der hier. Heute Nacht wollen wir nicht mal die anderen zum Saubermachen rausschicken.«
Ox zuckt mit den Schultern. »Vielleicht wird es so kalt, dass die Biester langsamer werden.« Mit diesenWorten geht er weg und lässt uns an der Leiter hängen.
Der R ekruter, ein etwas älterer Mann mit grauen Schläfen, schaut uns mit einer tiefen Falte zwischen den Augenbrauen an. Er starrt auf meine nackten Hände, ich hatte keine Zeit, mir Handschuhe zu suchen. Er schaut sich um, und als er sicher ist, dass niemand uns beachtet, wickelt er sich seinen dicken Schal vom Hals und gibt ihn uns. »Viel Glück«, sagt er, bevor er sich abwendet.
Als Antwort darauf jagt meine Schwester dem letzten Ungeweihten am Strand, der die Arme nach uns ausstreckt, einen Bolzen durch die Stirn. Wir lassen uns auf den Boden fallen, eine dünne Eisschicht knirscht unter unseren Füßen.
Ich schlinge meiner Schwester den Schal um den Hals. »Das hättest du nicht tun sollen«, sage ich, hebe die Schaufel auf und prüfe ihr Gewicht.
Sie bindet sich den Schal fest um und zieht einen Bolzen aus dem Boden, der sein Ziel verfehlt hatte. »Ich töte sie nicht so furchtbar gern, aber sie mussten weg, schließlich konnten wir nicht auf dieser Leiter bleiben.«
Ich versuche zu lächeln, ich weiß, sie will das. »Ich habe gemeint, du hättest nicht helfen sollen. Du hättest auf der Rampe bleiben sollen, in Sicherheit.«
Sie zuckt mit den Schultern, aber ihre Lippe zittert, mit unsicherer Hand legt sie den Bolzen ein. »Ich bin deine Schwester. Deine ältere Schwester. Und es ist meine Aufgabe, auf dich aufzupassen.«
Ich will ihr sagen, dass ich keinen Aufpasser brauche und bisher ganz gut allein zurechtgekommen bin . A ber das wäre eindeutig gelogen.Wenn sie nicht eingeschritten wäre, hätte ich mich vermutlich angesteckt oder wäre gestorben.
Was sie getan hat, welches Opfer sie für mich gebracht hat, ist überwältigend. Ich muss mich umdrehen, damit sie mein Gesicht nicht sieht.
Ich habe sie im Wald allein gelassen. Sie hätte jedes R echt gehabt, mich ebenfalls im Stich zu lassen – und sie hat sich entschieden, es nicht zu tun. Vielleicht könnte ich mich ja deshalb damit anfreunden, ihr zu vertrauen – vielleicht ist sie ja tatsächlich für mich da, wenn ich sie brauche.
Dieser Gedanke macht mir schreckliche Angst. Ich bin es nicht gewohnt, von jemandem abhängig zu sein.
Das stimmt nicht – früher habe ich mich auf Elias verlassen, doch als er weggegangen ist, habe ich mir geschworen, nie wieder jemandem zu vertrauen.
Meine Schwester legt mir die Hand auf die Schulter, um mir Mut zu machen.Vor uns schlurfen Ungeweihte am Ufer entlang in unsere Richtung, langsam und unausweichlich.
Mit einem Seufzer lässt sie die Hand sinken und beugt sich über die toten Pestratten, stellt den Fuß auf einen Schädel nach dem anderen, weil die Bolzen sich so leichter herausziehen lassen. Dann spannt sie die Muskeln an, bis sich die Pfeile mit einem schmatzenden Geräusch lösen.
Wir finden es beide eklig. Ich beobachte, wie ihr das zottelige Haar ins Gesicht fällt und wie sie es hinters Ohr streicht. Es hat lange gedauert, bis ich gelernt hatte, mir das Haar nicht mehr aus dem Gesicht zu streichen, sondern es als Schild zu benutzen.
Ich fasse mir an den Hals, mein Haar ist nicht mehr da.
Der Wind weht über den Fluss, und ich zittere und wickle mir den
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