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Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan
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Schal, den ich letzte Nacht mitgenommen habe, fester um den Kopf.
    »Glaubst du, wir kommen hier durch?«
    Sie schaut nicht mal auf, sagt einfach nur ja, wobei sie ächzend einen weiteren Bolzen losreißt. Ich höre die Entschlossenheit in ihrer Stimme, den unerschütterlichen Willen, am Leben zu bleiben. Ich wünschte, ich hätte ihren absoluten Glauben an das Überleben. Ich wünschte, ich wüsste nicht, wie schwer es ist – sich immer wieder zum nächstenTag durchzuschlagen, nur um morgens aufzuwachen und noch härter zu kämpfen. Ich habe Lust, einfach einzuschlafen und alles geschehen, die Ungeweihten einfach gewähren zu lassen.
    Irgendwann wird es ohnehin so kommen.
    »Ich habe jemanden getötet.« Das Geständnis meiner Schwester lässt mich aus meinen Gedanken aufschrecken.
    Ich fahre zu ihr herum. Sie steht genau an der Stelle, an der das Eis ans Ufer stößt, und umklammert die Bolzen, die sie gesammelt hat.
    »Was?«, keuche ich. Niemals hätte ich erwartet, so etwas von ihr zu hören.
    Sie hockt sich hin und drückt die Spitzen der Bolzen in das dünne Eis, das zerbricht. Ihr Gesicht kann ich nicht sehen, deshalb gehe ich zu ihr und hocke mich neben sie. Die Eiseskälte sickert durch meine Kleider und macht meine Knie gefühllos.
    »In Vista. Da habe ich jemanden getötet. Er hieß Daniel, und er wollte …« Sie schluckt angestrengt. »Er wollte mich erpressen. Er wollte mich dazu zwingen, bei ihm zu bleiben, ihn zu heiraten, sonst wollte er mich in Schwierigkeiten bringen. Ich bin in Panik geraten. Er hatte mich gegen die Barriere gedrängt, und ich bekam keine Luft und wusste nicht, was ich machen sollte und …« Sie keucht fast, dieWorte überschlagen sich.
    In der Ferne stöhnen die Ungeweihten, mit knirschenden Schritten bewegen sie sich langsam an der Mauer entlang auf uns zu. Ich schlinge die Arme um sie und ziehe sie an mich, drücke ihr Gesicht an meine Schulter und lege ihr das Kinn auf den Kopf. Sie drückt mich so fest, dass es wehtut zu atmen. »Alles ist gut«, sage ich, aber sie schüttelt den Kopf. Ich spüre ihreTränen auf meiner Haut.
    »Ist es nicht.« Ihre Stimme klingt dumpf und undeutlich. »Ist es nicht. Ich war von oben bis unten mit seinem Blut bespritzt, und beim Sterben hat er mich angesehen. Ich habe ihn einfach da liegen lassen.Wenn ich es jemandem erzählt hätte …Wenn ich mich nicht von ihm erwischen hätte lassen … Ich hätte so viel anders machen können, dann hätte er nicht sterben müssen.«
    Zitternd holt sie Luft. »Ich bin kein schrecklicher Mensch, Annah, ich schwöre dir, das bin ich nicht. Ich habe das nicht gewollt . A ber was sollte ich denn machen?«
    Ich halte sie ganz fest. »Ich weiß, dass du kein schrecklicher Mensch bist. So würde ich nie von dir denken.«
    Sie schnieft und hebt den Kopf.Tränen laufen ihr über dieWangen, ihre Augen sind geschwollen. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht perfekt bin«, sagt sie, während ich ihr das Haar aus dem Gesicht streiche.
    »Schon gut«, erwidere ich. »Das ist keiner von uns.« Sie lächelt, und ihre Entschlossenheit färbt auf mich ab. Ich betrachte dieTränenspuren, die ihr über den Kiefer und am Hals entlanglaufen, es sieht aus, als ob ihr Gesicht zerschmettert und dann sorgfältig wieder zusammengesetzt worden wäre. Und ich überlege, ob meine Narben nicht genau das sind: der Beweis dafür, dass ich mich wieder ganz gemacht habe.

28
    D er Schneesturm bricht am späten Nachmittag herein, es ist nun fast unmöglich, über den Fluss zu schauen. Die eisigen Windstöße machen uns blind, wir zittern vor Kälte. Meine Schwester und ich kauern uns in einer Nische der Mauer aneinander, stecken die Hände unter die Kleider und versuchen unser Blut in Bewegung zu halten.
    »Du solltest nicht hier unten sein«, sage ich zum hundertsten Mal. »Für Elias wird Catcher nicht zurückkommen. Das musst du Conall sagen.Wenn wir beide sterben, verlieren sie Catcher.«
    Meine Schwester schüttelt den Kopf. »Ich lasse dich nicht allein.« Es ist schwer zu verstehen im heulenden Wind.
    »Du kannst nicht hierbleiben«, sage ich. »Wir dürfen nicht beide erfrieren.«
    »Ich gehe davon aus, dass keine von uns hier draußen erfriert.« Sie zieht eine Augenbraue hoch. Ich weiß genau, welche Sturheit in uns steckt.
    Die eisige Kälte beißt in meine ungeschützten Fingerspitzen, als ich ihre Schultern packe und sie in Richtung Rampe dränge. »Später kommen die anderen Säuberer hier raus, gestern habe ich einen

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