Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
kleinerTeil von mir lauscht auf nahende Schritte, der R est kostet das befreiende Gefühl aus, etwas erschaffen zu können.
Ich ziehe Linien, schattiere Konturen. Die schmerzenden Muskeln an Armen und Schultern protestieren, und ich beanspruche sie umso stärker. Unter meinen Fingern entstehen Formen, Gesichter, Körper an derWand. Mir rinnt der Schweiß den Nacken hinab, und ich verliere jegliches Gefühl für Zeit und Ort. Ich vergesse meinen schmerzenden Kopf und die kalte Zugluft an den Ohren.
Es gibt nur mich und das Holz und dieWand. Bilder blitzen in meinem Kopf auf, die meine Finger schon übertragen haben, ehe ich sie wirklich angeschaut und mitVerstand zusammengesetzt habe. Ich bin gar nicht richtig beteiligt, es ist wie ein Dialog zwischen Hand und Unterbewusstsein. Schwungvoll ziehe ich Linien, die ich mit den Handballen verwische: das Haar einer Frau, das der Wind verwirrt. Um einen Riss herum male ich die Lippen eines Kindes: ein ewiger Schrei.
Als ich zurücktrete, sehe ich erst, was ich gezeichnet habe. Über die ganze Breite derWand und bis in weite Ferne zieht sich eine Armee von Leuten. Sie schlurfen auf mich zu, mit flehend ausgestreckten Armen.
Im Mondschein wirken sie beinahe echt. So als wären die Geister von Menschen aus längst vergangener Zeit durch die bröckelnden Ziegel gebrochen, weil sie nach dem verlangten, was noch von unsererWelt übrig ist.
Ich habe mich selbst in diese Menge gemalt, mit den dunklen Narben auf meiner linken Seite, das Haar in wütenden Stacheln. Meine Schwester neben mir geht makellos und frei Hand in Hand mit Elias. R ekruter habe ich gemalt, in einem Wust von Soulern mit wallenden Gewändern. Hier sind alle, die ich je gekannt habe – und alle sind wir verloren.
Alle sind wir leere Hüllen.
Nur einer nicht. Mitten in der Menge steht Catcher. Er ist der Einzige, der die Arme locker hängen lässt. Der Einzige, dessen Mund geschlossen ist und der einfach mitten im Getümmel steht.
Ich starre auf meine Zeichnung von ihm. Den Schwung seiner Augenbrauen habe ich genau wiedergegeben und diese leichte Schrägstellung seiner Augen.
Seine Einsamkeit undVerzweiflung.
Langsam gehe ich wieder zurWand. Ich nehme ein dünnes Stück Kohle mit einer scharfen Spitze in die Hand und kratze in mühevoller Kleinarbeit die Stäbe eines Zaunes über die Masse der Ungeweihten, denn ich brauche etwas, das sie zurückhält.
Ihre Finger umfassen das Gitter, ihre Gesichter drücken sich an den Zaun, aber als ich zu Catcher komme, ertrage ich es nicht, über ihn auch ein Gitter zu zeichnen. Ich lege die Spitze der Kohle an die Lippen und denke nach.
Mit den Fingerspitzen füge ich weitere Details in die Zeichnung ein, der krümelige schwarze Staub fühlt sich rau an. Links von Catcher verläuft der Zaun, aber auf der rechten Seite zeichne ich noch etwas ein. Statt sich an den Zaun zu klammern, halten die Ungeweihten Blumen in den Händen und Ballons, die sie in den Himmel hinaufziehen. Sie tragen Hüte und sind lustig geschminkt. Ich lasse sie lächeln, statt stöhnen.
Nach dieser Anstrengung noch immer heftig atmend, trete ich einen Schritt vomWandbild zurück. Keuchend und verschwitzt ringe ich nach Luft. Ich starre auf die Pestratten, die sich in wilder Gier an den Zaun drücken. Sie bilden den totalen Kontrast zu den Leuten auf der anderen Seite des Gitters, die geradezu lächerlich glücklich sind. Und dazwischen steht Catcher, so als würde er weder auf die eine noch auf die andere Seite gehören.
Ich verschränke die Arme vor der Brust und schaue mir das Bild von ihm an. Mit jedem Herzschlag verliebe ich mich mehr in ihn. Das ist dumm, und ich weiß es. Ich hasse mich sogar dafür und versuche mein flammendesVerlangen mit irgendeiner Erklärung abzutun.
Er ist weg.
Ich habe ihn weggestoßen.
Ich habe so heftig gestoßen, dass er gegangen ist.
Mein Geist ruft Bilder wach, in denen ich die Beine um ihn schlinge, während er mich durch dieTunnel trägt, in denen er mich bei unserer Flucht aus der Dunklen Stadt hält … und ich sehe auch vor mir, wie er mich im Schnee in seine Arme zieht, als wäre ich wirklich schön.
Jede Erinnerung versetzt mir einen Stich und macht mir deutlich, worauf ich verzichtet habe. Ich will aufhören mich zu erinnern, einfach nur fertigwerden mit dem Schmerz, doch mein Körper brennt und sehnt sich nach Catcher.
Am nächsten Morgen hämmern sie an unsere Tür, und es ist ihnen ganz egal, ob sie zersplittert, bevor jemand öffnet.
»Was
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