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Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)

Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)

Titel: Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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St.-Josephs-Kinderheim in St. Roch für ihn zuständig gewesen, das seit 2002 geschlossen war. Niemandem war aufgefallen, dass Andray sich selbst überlassen blieb. Sein Vorstrafenregister war länger als mein Hotelzimmer breit und auch auf den zweiten Blick für keine Überraschungen gut: mehr Fälle von Drogenbesitz, mehr Körperverletzung. Es brauchte nicht viel, sich solche Anklagen zuzuziehen, wenn man schwarz, arm und männlich war. Vermutlich hatte ich mehr Körper verletzt, mehr Waffen besessen und mehr Drogen konsumiert und weitergegeben als Andray, und dennoch war mein Vorstrafenregister nur halb so lang. Andererseits hatte ich nie eine Neunmillimeterpistole oder eine AK-47 benutzt, um Leute zu überfallen, Andray hingegen schon.
    Man hatte ihn zwei Mal wegen Mordverdachts festgenommen. Er war beide Male nach sechzig Tagen wieder freigelassen worden. So lief es hier immer. Die Einheimischen nannten das einen Sechzig-Tage-Mord oder einen Kavaliersmord oder eine 701 – wobei 701 der Code für die Regelung war, derzufolge die Polizei nach der Verhaftung sechzig Tage Zeit hatte, eine Anklage einzuleiten oder den Verdächtigen laufenzulassen. Sechzig Tage waren viel Zeit, um eine Mordanklage auf die Beine zu stellen. Sechzig Tage waren eine lange Schonfrist, aber in dieser Stadt waren sechzig Tage nicht genug. In New Orleans kommen über neunzig Prozent aller Mordverdächtigen innerhalb der sechzig Tage wieder frei.
    Aber ein 701er war auch für den Verhafteten kein Zuckerschlecken. In New Orleans wurde ein Mordverdächtiger eher selbst ermordet, als dass er vor Gericht landete. Genauso gut hätten die Cops den – schuldigen oder unschuldigen – jungen Männern, die sie sechzig Tage lang festhielten, eine Zielscheibe auf den Rücken malen können, bevor sie sie wieder auf die Straße jagten. Kontakt zur Polizei konnte in jedem Fall mit der Todesstrafe geahndet werden, wobei die Richter und Geschworenen der Straße keine sechzig Tage brauchten, um ein Urteil zu fällen.
    Überall brachten Menschen einander um. Der Unterschied war nur, dass in New Orleans keiner etwas dagegen unternahm. Polizei und Staatsanwaltschaft schoben sich gegenseitig die Schuld zu. Die Schulen machten die Eltern, die Eltern die Schulen verantwortlich. Die Schwarzen beschuldigten die Weißen und die Weißen die Schwarzen. Und unterdessen brachten sie einander munter um.
    Ich legte die Polizeiberichte beiseite und untersuchte nochmals die Fingerabdrücke. Wie die meisten Kriminellen hatte Andray einen starken Räuberwirbel und eine verkürzte Temperamentskurve. Kein Wunder, dass er einsaß. Bei Vic konstatierte ich eine überentwickelte Verleugnungslinie und eine kleine Narbe, wo eigentlich die Gewissenswindung hätte sein müssen. Typisch Anwalt. Im Daumenabdruck beider Männer entdeckte ich eine kräftige, ausgeprägte Herzmitte. Damit hatte ich nicht gerechnet.
    Vor langer Zeit hatte Constance mich die esoterische Deutung von Fingerabdrücken gelehrt. Es gab nur noch wenige Menschen auf der Welt, die diese Kunst beherrschten, und keiner von ihnen lebte in den Vereinigten Staaten. Einige kamen aus Europa, die meisten aus Indien. Nach Constances Tod hatte ich mich allein und unter Zuhilfenahme von Büchern und Eingebungen weiterbilden müssen.
    »Fürchte dich niemals davor, vom Äther zu lernen«, hatte Constance gesagt. »Dort lebt das Wissen, bevor es gejagt, erlegt und in Buchform präpariert wird.«

    Ich war mir sicher, den Fall gelöst zu haben. Andray Fairview war in Vics Wohnung eingebrochen, hatte sich Essen geschnappt und auch Vic selbst. Vermutlich hatte er geplant, Vic zum nächsten Bankautomaten zu schleppen und ihn zum Geldabheben zu zwingen. Als sich herausstellte, dass die Automaten nicht mehr funktionierten, hatte er Vic getötet und in die Fluten geworfen. Das Verbrechen war nicht perfekt, aber schon verdammt gut. Und da Teenager für gewöhnlich keine kriminellen Superhirne sind, rechnete ich damit, den Fall in wenigen Tagen abzuschließen. Das Geheimnis um Vic Willing war so gut wie gelüftet.
    Dachte ich zumindest, bis ich einschlief.

12
    I ch spazierte eine lange Straße entlang, die einmal in einer Stadt gelegen hatte. Nun war sie menschenleer und von weißer Asche und krustigem, grauem Schlamm bedeckt. Am Straßenrand welkten braune Pflanzen vor sich hin. Still und kaputt ragten rechts und links der Straße Häuserruinen und Autowracks empor. Die Luft roch widerlich und süßlich nach Verwesung.
    Da

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