Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)
und setzte mich neben die Jungs, im Abstand von wenigen Zentimetern.
»Hi«, sagte ich, »ich bin Claire DeWitt, Privatdetektivin aus Brooklyn, New York.«
Sie setzten sich auf und starrten mich an. Egal, wie tief Brooklyn ins Yuppietum abgerutscht war – die Leute ließen sich immer noch damit beeindrucken. Das, in Kombination mit der Detektivsache, garantierte mir bei Leuten unter vierzig, die mindestens eine Hip-Hop-Platte besaßen, einen guten Einstieg.
»Ich bin hier, weil ich an einem Fall arbeite«, erklärte ich. »An einem sehr wichtigen Fall.«
Die Jungen nickten und versuchten, vertrauenswürdig und seriös zu wirken.
»Ich möchte wissen«, sagte ich, »ob einer von euch diesen Mann kennt.«
Ich holte das Foto von Vic Willing heraus und zeigte es ihnen.
Sie betrachteten das Bild. Dabei ging im Rothaarigen eine Veränderung vor sich. Es war, als würde eine Klappe zufallen. Er blinzelte nicht mehr. Er runzelte nicht die Stirn und bewegte die Augen nicht, was jeder normale Mensch beim Betrachten eines Fotos tat. Stattdessen stellte er den Betrieb ein wie ein Auto, dem das Benzin ausgegangen war.
Der Braunhaarige betrachtete das Foto kopfschüttelnd.
»Nee«, sagte er, »sorry.« Er sagte die Wahrheit.
Der Rothaarige schüttelte den Kopf und murmelte: »Sorry.«
Er log. Ich starrte ihn an. Er fing an, nervös zu werden. Er wippte mit dem Fuß. Unvermittelt stand er auf.
»Was soll die Scheiße«, sagte er wütend zu dem anderen Jungen und warf seine Zigarettenkippe weg. Der Braunhaarige wirkte überrascht. »Das ist doch eine Riesenscheiße«, rief der Rothaarige, »den ganzen verdammten Tag hier rumzuhocken, nur um den Nigger zu sehen. Als ich im Charity lag, hat er mich nicht besucht, kein einziges Mal! Blöde Scheiße.«
Er drehte sich um und ging weg, ohne mich noch einmal anzusehen. Der Braunhaarige lief ihm verwirrt hinterher.
Möglicherweise war ich bis auf wenige Zentimeter an die Wahrheit herangekommen, aber nicht nah genug, um danach zu greifen.
Ich ging wieder hinein und las in einem Buch über mexikanische Hexerei, das ich mitgebracht hatte. Als ich aufgerufen wurde, durchschritt ich zwei Türrahmen mit Metalldetektoren, die sämtliches Metall, das ich bei mir trug, ignorierten, und fand mich in einem quadratischen Raum mit dem gleichen Geruch und mehr Anwälten und weniger Müttern wieder. Der Wärter zeigte auf einen runden Tisch in der Mitte, an den man Andray Fairview gesetzt hatte.
Ich setzte mich auf den Plastikstuhl ihm gegenüber. Er schaute nicht auf.
»Hi«, sagte ich. Er hob den Kopf, sah mich und ließ den Kopf wieder hängen. Ich war mir nicht sicher, ob er mich erkannt hatte. Wahrscheinlich nicht.
Seine großen Augen waren blassbraun, das Weiß darin von roten und rosa Äderchen durchzogen. Unter der Gefangenenkleidung blühte die Narbe einer Schusswunde auf seiner Brust. Er richtete den Blick starr auf den Linoleumboden und atmete flach und langsam. Er hing so schlaff da, als koste es ihn alle Energie, nicht vom Stuhl zu rutschen.
»Ich bin Claire DeWitt«, sagte ich. »Ich bin Privatdetektivin.«
Normalerweise reagieren die Leute darauf positiv. Jeder kann sich für ein anständiges Rätsel begeistern. Andray hingegen sah mich an, zog die Augenbrauen hoch und ließ sie nach und nach wieder auf Keilbeinhöhe absacken.
»Ich habe deine Fingerabdrücke in einer fremden Wohnung gefunden«, sagte ich. »Sie gehört einem Mann namens Vic Willing.«
Ich ließ Andray Zeit zu antworten. Er sagte nichts. Aber trotz der bemühten Ausdruckslosigkeit seines Gesichts sah ich etwas – Angst vielleicht oder einfach nur Ablehnung. Er konnte mich nicht leiden, so viel hatte ich verstanden. Ich wusste aber nicht, ob er zudem Angst vor mir hatte.
Andray hatte zwei tiefe Falten im Gesicht, die sich von seiner Nasenwurzel über seine Augenbrauen zogen. Darüber waren drei feine Linien horizontal in seine Stirn eingraviert. Für einen Achtzehnjährigen machte er sich ganz schön viele Gedanken. Entweder war er besonders intelligent oder ängstlich veranlagt oder beides.
Normalerweise kann ich Gesichter deuten. Meistens ist es ganz einfach. Eine Hand im Gesicht heißt, dass jemand lügt. Überflüssiges Blinzeln verrät Nervosität, eine hochgezogene Augenbraue Überraschtheit. Aber bei Andray war es nicht einfach. Alle Hinweise waren da, aber ich wusste sie nicht sinnvoll einzuordnen.
Ich wusste nur eins. Er war nicht erfreut, mich zu sehen.
Und was immer er über Vic
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