Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)
interessierte.
Später, als wir älter wurden, verbrachten wir Stunden in der U-Bahn. New York gehörte uns, von The Cloisters bis Coney Island. Der U-Bahn-Chip kostete fünfundsiebzig Cent, eine Dose Krylon zwei Dollar. Dabei ließen sich die Drehkreuze in der U-Bahn mühelos überspringen und die Sprühfarbe problemlos stehlen. Wir fuhren U-Bahn und hinterließen unser Zeichen, wo immer wir konnten. Für manche Jugendliche ging es beim Sprayen um Leben oder Tod; wir hingegen wollten einfach nur dokumentieren, dass wir da gewesen waren.
New York war unser privates Rätsel. Wie Kinder, die sich im Wald verlaufen hatten, orientierten wir uns an unseren eigenen Spuren. Niemand suchte uns. Niemand vermisste uns. Erwachsene Autorität trat uns nur in Form von Polizeigewalt entgegen, und selbst die Cops sagten nie mehr als Kipp das weg, Steck das in eine Papiertüte oder Mach das aus.
Wir sprühten gemeinsam, gemeinsam kauften wir Platten, gemeinsam durchkämmten wir die Billigläden nach Klamotten und Büchern, gemeinsam kauften wir in der Myrtle Avenue Tütchen mit Gras und Flaschen mit Wodka, gemeinsam fälschten wir unsere Schülerausweise, um ins Kino zu gehen, gemeinsam blieben wir bis zur Endhaltestelle in der U-Bahn sitzen, gemeinsam lernten wir Jugendliche kennen, die so waren wie wir – eine ganze Stadt voller Jugendlicher wie wir, die von ihren Elternhäusern und Wohnvierteln so weit weg sein wollten wie möglich.
Aber zwischen uns und den anderen gab es einen Unterschied. Wir hatten Détection gelesen, sie nicht.
Im Jahr 1985 lasen wir Zeitung und sahen fern und versuchten, Verbrechen aufzuklären, von denen wir gehört hatten. In dem Jahr wurden in New York City über tausend Menschen ermordet. Allein in unserem Viertel kam es ein oder zwei Mal pro Woche zu einer Schießerei.
Und die Stadt im Großen war, wie wir bald herausfanden, gar nicht so anders als unsere Straße. Manchmal bestand das Problem nicht darin, den Fall zu lösen. Es bestand darin, jemanden zu finden, der sich dafür interessierte.
»Der Hinweis, der sich benennen lässt, ist nicht der ewige Hinweis«, schrieb Silette. »Das Rätsel, das sich benennen lässt, ist nicht das ewige Rätsel.«
37
A m nächsten Tag fuhr ich wieder zum Park an der Annunciation Street. Vor mir entdeckte ich den weißen Kranwagen, der mir schon seit Tagen aufgefallen war. Ich wusste immer noch nicht, wozu er herumfuhr. Ich warf einen Blick auf das Nummernschild. Es war von Schlamm bedeckt. Ich versuchte, die Leute im Wageninnern zu erkennen, konnte aber nicht mehr sehen als zwei Gestalten in weißen Overalls. An der Josephine Street bog der Kranwagen nach rechts ab. Ich folgte ihm nicht.
Eigentlich war der Park an der Annunciation ein Kinderspielplatz. Aber niemand kam zum Spielen her. Ich sah die gleichen Jungen wie beim letzten Mal, die die gleichen Drogen verkauften. Einer war klein und hatte lange, dicke Dreadlocks. Ich wusste gleich, das war Lawrence.
Ich parkte den Truck, lief zu ihm hin und stellte mich vor. Lawrence hatte eine glatte, ebenmäßig schwarze Haut und ein ganz hübsches Gesicht, aber das Schönste an ihm waren seine Haare, die sich in langen, gepflegten Kringeln um seinen Kopf legten wie bei Shiva, dem Hindugott. Er trug übergroße Jeans, in deren Bund eine ebenso überdimensionierte Schusswaffe steckte. Auf sein T-Shirt war das Bild eines toten Jungen aufgedruckt. Hustler 4 life, stand unter dem Bild. Es war kalt, und ich sah die Gänsehaut an Lawrence’ braunen, makellosen Armen.
Wir standen uns fröstelnd gegenüber. Seine Freunde standen in der Nähe und beobachteten uns. Unter ihren T-Shirts hatten sie genug Waffen versteckt, um Falludscha einzunehmen. Ich war froh, dass im Bund meiner Jeans die .38er steckte.
Lawrence musterte mich spöttisch. Nur eine liebende Mutter konnte Lawrence für so etwas wie unschuldig halten. In meinen Augen waren alle schuldig, und Lawrence ganz besonders.
»Darf ich dich zum Mittagessen einladen«, sagte ich. »Hier draußen ist es ganz schön kalt.«
Lawrence schüttelte stumm den Kopf. Er machte einen auf harte Nuss. Aber ich war härter.
»Es geht um Vic Willing«, sagte ich leise. »Den Staatsanwalt.«
Lawrence kniff die Lippen zusammen. Er schwieg immer noch.
»Ja, ich weiß«, sagte ich, »keiner darf mit der Verrückten über den Staatsanwalt reden.«
Er sagte nichts, aber die Augen gingen ihm über. Was er zu erzählen hatte, war stark, aber er war stärker.
»Dann muss ich
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