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Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)

Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)

Titel: Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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die Angst habe ich mich natürlich noch mehr gehasst. Aber dann habe ich dieses Buch entdeckt. Der Mann in dem Buch sagt etwas, das ich wirklich clever fand. Für mich hat sich dadurch etwas geändert. Irgendwie veränderte es alles, mein ganzes Leben.«
    Ich betrachtete Lawrence. Er schaute immer noch weg. Im Innenwinkel seines linken Auges zitterte eine Träne, riss sich los und lief ihm übers Gesicht. Er erstarrte und tat so, als bemerke er es nicht. Der Wind trieb Fast-Food-Verpackungen und leere Dosen vor sich her, die gegen unsere Füße schlugen.
    »In diesem Buch«, sagte ich, als würden wir nicht beide weinen, »schreibt der Mann: ›Sei dankbar für jede Wunde, die dir das Leben zufügt.‹ Er schreibt: ›Dort, wo wir unverletzt sind, sind wir nicht authentisch. Wo wir verletzt und vernarbt sind, zeigt sich unsere wahre Natur.‹ Nur so kann man zeigen, woraus man gemacht ist.«
    Lawrence sah mich an. Er sagte nichts, aber er sah mich an wie ein Ertrinkender, während ich den Rettungsring in Händen hielt.
    »Von nun an«, sagte ich vorsichtig, »kannst du gehen, wohin du willst. An jeden Ort der Welt. Du musst nicht mehr der sein, der du gestern warst. Dir ist immer noch dasselbe zugestoßen, aber du bist ein anderer.«
    Lawrence lachte und tat so, als verstehe er kein Wort.
    »Diese Geschichte«, sagte ich, » deine Geschichte braucht nicht damit zu enden, dass das Opfer allein und pleite in einem Hotelzimmer in der Canal Street verreckt. Oder in Angola. Die Geschichte kann davon handeln, dass dieser Mist, der dir zugestoßen ist, dass deine Narben dir die Stärke verleihen, dein Leben zu leben, ein Leben so wunderbar, wie du es dir heute nicht vorstellen kannst. Kein Tag muss je wieder so langweilig sein. Denn nur Menschen wie du und ich wissen, dass uns nichts umhauen kann. Wir haben das denkbar Schlimmste schon hinter uns, und nun sind wir frei zu tun, was wir wollen. Nichts hält uns zurück.«
    Wir starrten einander lange an.
    »Sie sind ja verrückt«, sagte Lawrence schließlich und schluckte die Tränen hinunter.
    »Das stimmt«, sagte ich, »das ist ärztlich bestätigt. Komm, ich lade dich zum Mittagessen ein und erzähle es dir.«
    »Ja«, sagte Lawrence, »okay.«
    Wir setzten uns ins Parasol’s und bestellten Roastbeefsandwiches und Rootbeer und lachten, bis wir beide nicht mehr weinen mussten. Über Vic und den Fall redeten wir nicht mehr. Ich erzählte Lawrence Geschichten. Ich erzählte ihm, wie mich der Staat Utah ganz offiziell für geisteskrank erklären ließ. Ich erzählte ihm von Brooklyn und dann vom Rest der Welt: Paris, Buenos Aires, Mexico City, San Francisco. Ich erzählte ihm von meinen Ermittlungen und vom Verrücktwerden, wie man mich einmal in Los Angeles aus einer Tätowiermesse geworfen hatte und dass ich im Sands in Las Vegas lebenslanges Hausverbot hatte.
    Es gibt keine Zufälle. Nur Gelegenheiten, die zu ergreifen wir zu dumm sind, und Türen, die wir vor lauter Blindheit nicht sehen. Und hinter jeder steht ein Mensch, der sehnlichst darauf wartet, dass jemand den ersten Schritt tut. Man kann nur zu Gott beten, dass er den Hinweis erkennt und den Heimweg findet.

38
    E inmal, als ich noch für Constance arbeitete, stand einer ihrer Freunde mit mindestens einem Dutzend kleiner Kinder vor der Tür. Er war ein Indianer, er war der Medizinmann der White Hawks. Er trug kein Kostüm, aber ich erkannte ihn vom Josefstag, als wir ihn im Park hatten auftreten sehen. Er hatte eine weiße Robe getragen und einen meterhohen Kopfschmuck. Lange Zöpfe aus Kunsthaar hatten sein Gesicht umrahmt. Der Mann war um die fünfzig und sah fies aus. Wäre er nicht in Begleitung kleiner Kinder gekommen, die ihn offensichtlich vergötterten, hätte er mir Angst gemacht. Aber die Kinder beteten ihn an, sie hüpften und kletterten auf ihm herum. Sie nannten ihn Onkel, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es sogar in New Orleans, wo es keine Seltenheit war, sechs oder sieben Geschwister zu haben, niemanden mit so vielen gleichaltrigen Nichten und Neffen gab. Die Kinder waren frech und nicht allzu gepflegt, woraus ich schloss, dass sie in staatlicher Obhut lebten – bei Pflegeeltern, in Heimen und auf der Straße.
    Ich wusste nicht, warum sie gekommen waren. Sie liefen in den Garten, wo Constance Kräuter züchtete. Die giftigen waren abgezäunt. Die Kinder versammelten sich um den Mann, der ein Tamburin herausholte und ihnen Lieder beibrachte. Ich hatte lange genug in New Orleans gelebt, um

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