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Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)

Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)

Titel: Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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raten«, sagte ich. »Ich muss raten, was zwischen dir und Vic Willing vorgefallen ist.«
    Lawrence schaute zur Seite, ignorierte mich und schob den Unterkiefer vor. Aber er rührte sich nicht vom Fleck.
    Ich beobachtete ihn. Er stand aufrecht da, doch sein Rücken war steif durchgedrückt. Er stand aus Angeberei so gerade, nicht aus Stolz. Seine Schultern waren wie zur Selbstverteidigung nach vorn gekrümmt. Er hatte die Hände in den Taschen vergraben, damit ich sie nicht zittern sah. Ich maß seine Atemfrequenz und -tiefe; schnell und flach. Ich blickte ihm in die Augen und deutete die Irisflecken. Ich studierte seine Tätowierungen. Zusätzlich zu den üblichen Gangsymbolen und Revierzeichen hatte er sich einen Reißverschluss an den Hals stechen lassen. Das Ganze schrie nach Selbstmordgedanken.
    Das Bild zu deuten, war nicht schwer. Es war dieselbe alte, traurige Geschichte. Ich kannte sie besser, als mir lieb war.
    »Deine Mutter Shaniqua hat Vic von dir erzählt«, riet ich. »Sie hat ihm Fragen gestellt und ihm alles erzählt. Und er hat ihr seine Hilfe angeboten. Er hat euch tatsächlich geholfen, nicht wahr? Hat dafür gesorgt, dass die Anklage fallengelassen und die Vorstrafen aufgehoben wurden. Und er war immer so nett! Der netteste, coolste Typ der Welt, richtig?«
    Lawrence schwieg.
    »Es war so, wie alle sagten«, fuhr ich fort, »und nachdem die Sache überstanden war, blieb Vic in der Nähe. Nicht wie … nicht wie alle anderen außer deiner Mom, stimmt’s? Vic blieb in der Nähe. Am Anfang gab er sich als guter Freund. Er interessierte sich für dich, hörte zu, gab gute Ratschläge.«
    Lawrence starrte einen Punkt hinter dem Spielplatz an. Sein Kiefer arbeitete. Seine Brust hob und senkte sich schnell. Er war kampfbereit.
    »Aber dann eines Tages«, sagte ich zitternd, »war er nicht mehr so nett, oder? Er wollte mehr. Er hat dir gesagt, es wäre okay, alle würden es machen. Er wollte … tja, er wollte Sex. Und als du abgelehnt hast, war das okay, anfänglich. Er sagte, er hätte damit kein Problem. Du brauchtest nichts zu tun, was du nicht tun wolltest. Ihr könntet trotzdem befreundet sein. Stimmt’s?«
    Lawrence rührte keinen Muskel, aber in seinen Augenwinkeln bildeten sich kleine, glänzende Seen.
    »Aber er versuchte es immer wieder. Er ließ nicht locker. Er führte dich aus. Machte dir Geschenke. Und hörte nicht auf. Angeblich könntet ihr trotzdem Freunde sein. Und das wolltest du auch, du wolltest mit ihm befreundet sein. Bloß dass er nicht lockerließ. Er ließ einfach nicht locker. Und dann eines Tages hat er Klartext geredet. Er hat dich nicht mehr gebeten, er hat dir Anweisungen erteilt. Entweder du machst mit, oder es wird erneut Anklage gegen dich erhoben. Fahrlässige Tötung – das ist keine Bagatelle. So lange will niemand nach Angola.« Dass eine einmal fallengelassene Anklage wiederaufgenommen würde, war natürlich höchst unwahrscheinlich. Doch es hatte keinen Zweck, Lawrence das nun zu erklären. »Also hast du es getan«, sagte ich, »du hast …«
    Lawrence schüttelte den Kopf.
    »Nein«, sagte er mit vor Aufregung brüchiger Stimme, »wir haben nicht … nein!«
    Er machte eine seltsame Kopfbewegung und verstummte. Er drehte den Kopf in Richtung Park und mied meinen Blick.
    Ich sagte nichts.
    »Ich habe nur zugeschaut«, murmelte Lawrence. »Er mochte es, wenn man zuschaute. Die anderen Jungen haben … Sie wissen schon.«
    »Wie alt warst du?«, fragte ich.
    »Vierzehn«, murmelte er. »Dreizehn, dann vierzehn.«
    Sein Blick klebte an einem Punkt in der Ferne. Es fing zu regnen an, so als hätte er es allein durch sein Starren bewirkt. Dass er nur zugeschaut hatte, glaubte ich ihm nicht.
    Wir standen im Regen und versuchten, mit dem, was er gerade gesagt hatte, zu leben.
    Wir konnten es beide kaum ertragen.
    Gäbe es ein Heilmittel gegen Selbstverachtung, ich hätte es Lawrence, nachdem ich selbst ein Schlückchen genommen hätte, eingeflößt. Aber diesen Zaubertrank gab es nicht. Jeder musste den Weg hinaus allein finden. Jeder musste sich selbst einen Pfad durchs Dickicht schlagen.
    Aber manchmal konnte man jemandem einen Hinweis geben.
    »Als mir das passiert ist«, sagte ich, »wollte ich sterben.«
    Lawrence starrte in die Ferne.
    »Wirklich«, sagte ich, »ich wollte einfach nur sterben, verstehst du? Ehrlich gesagt habe ich es nur deswegen nicht getan, weil ich zu große Angst hatte. Angst vor dem, was danach kommt. Angst vor dem Sterben. Und für

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