Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)
die Musik der Indianer zu erkennen, auch wenn ich kein Wort verstand. Zu meiner großen Überraschung kannte Constance alle Texte und sang mit.
Ich schaute eine Weile zu und ging dann wieder ins Haus, um ein paar Akten durchzusehen. Wir bearbeiteten gerade den Fall der verschollenen Bergleute, und ich beschäftigte mich mit der Genealogie des Minenbetreibers Alfred Stern – was sich als reine Zeitverschwendung erwies, weil die Bergleute letztendlich gar nicht verschollen waren. Sie hatten sich bloß verlaufen. Als ich eine Pause brauchte, ging ich in die Küche, um etwas zu trinken. Constance saß mit einem der kleinen Jungen am Tisch und las in seinen Teeblättern. Der Junge strahlte. Ihre Aufmerksamkeit traf ihn wie Wasser eine verdorrte Pflanze.
»Wenn die Zeit gekommen ist«, sagte sie gerade zu dem Kind, »wirst du es wissen. Okay?«
Der Junge nickte lächelnd. Constance fuhr ihm mit der Hand durchs Haar.
»Denk immer daran«, sagte sie, »vergiss es nicht.«
Ich machte mich wieder an die Arbeit. Der Mann und die Kinder blieben, bis es Abend wurde. Nachdem sie gegangen waren, räumten Constance und ich auf und sammelten überall im Haus halbleere Limonadengläser, Teller und Krümel ein. Constance beantwortete meine Frage, noch bevor ich sie gestellt hatte.
»Man kann das Leben eines anderen nicht ändern«, erklärte sie, »man kann sein Karma nicht auslöschen.«
»Aber …«, fing ich an.
Constance unterbrach mich kopfschüttelnd. »Man kann nur Hinweise streuen«, sagte sie, »und hoffen, dass sie verstanden und verfolgt werden.«
39
A ls ich am Nachmittag wieder in meinem Hotelzimmer war, rief ich Leon an.
»Wurde Ihr Onkel als Kind missbraucht?«, fragte ich.
»Hä?«, machte Leon. »Missbraucht? Nein. Ich meine, er verstand sich nicht besonders gut mit seinem Vater, aber misshandelt? Nein. Und seine Mom war recht kühl, aber …«
»Nein«, unterbrach ich ihn, »ich meine missbraucht. Sexuell missbraucht.«
»Du lieber Gott«, sagte Leon, »nein. Ich meine, nicht dass ich wüsste. Du lieber Gott. Nein.«
Ich legte auf. Ich rief Mick an, um ihm zu erzählen, was ich erfahren hatte. Noch während des Telefonats warf ich das I Ging.
»Du liebe Güte«, sagte Mick. »Himmel. Darauf wäre ich nie gekommen.«
Ich zählte die Werte zusammen und schlug in meinem Büchlein nach. Hexagramm fünfundfünfzig: der einsame Rauch.
»Ich weiß«, sagte ich. »So ist das mit der Wahrheit. Es ist wie mit verlorenen Autoschlüsseln, die liegen auch immer da, wo man zuletzt nachschaut. Hat Vic jemals gegen Andray prozessiert?«, fragte ich. »Oder es versucht?«
»Nein«, sagte Mick. »Das habe ich längst überprüft. Hat er nicht.«
Rauch ohne Feuer vermisst seine Schwester. Der weise Mann verfolgt den Rauch bis zum Funken zurück. Der einsame König kann das Volk nicht regieren. Liebe verdirbt den Reis und lässt die Wolken sauer werden.
»Bist du noch dran?«, fragte Mick.
»Ja«, sagte ich.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte er. »Meinst du, er wurde aus dem Grund ermordet? Ich habe mir seine Kontoauszüge angesehen, und ich glaube …«
»Vergiss die Auszüge«, sagte ich. »Das war’s.«
»Was soll das heißen? Du glaubst, Lawrence …«
»Nein, nicht Lawrence«, sagte ich. »Aber das ist es – unser Rätsel. Das muss es sein.«
»Wie kannst du dir so sicher sein?«, fragte Mick misstrauisch wie immer.
»Ich bin mir niemals sicher«, sagte ich. »Aber ich bin mir verdammt sicher, dass seine, nennen wir es Vorliebe, der Grund für den Mord an Vic war.«
»Na ja, ich finde, wir sollten seine Unterlagen trotzdem prüfen«, sagte Mick. »Wer weiß …«
»Tu, was du nicht lassen kannst«, sagte ich. »Ich werde derweil versuchen, mich mit einem Alkoholiker vom Congo Square anzufreunden.«
Ich war schon auf dem Weg hinaus, als Leon noch einmal anrief.
»Hallo, Claire«, sagte er.
»Hallo, Leon.«
»Ich habe noch mal nachgedacht. Meine Mutter hat mich nie mit Vic allein gelassen.«
»Nie?«, fragte ich. »Kein einziges Mal?«
»Kein einziges Mal«, sagte Leon gequält. »Ich meine, das heißt ja noch nichts. Es heißt ja nicht, dass … Ich weiß noch, wie sie einmal meinte, ach, Onkel Vic hat keine Ahnung von Kindern. Sie meinte das ganz unschuldig.«
»Kein einziges Mal?«, fragte ich. »Nicht mal ganz kurz, um Zigaretten zu holen?«
»Nein«, sagte Leon. »Sie hat mich immer mitgenommen. Immer. Ausnahmslos.«
Die meisten Menschen, die als Kind missbraucht wurden, tun
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