Die Stadt der verkauften Traeume
Ein heller Fleck in den vor Dreck fast schwarzen Straßen.
Benedikta schluckte. Ihr Gesicht war noch blasser als gewöhnlich. »Bitte … bringen wir die Sache rasch hinter uns«, sagte sie.
Kurz darauf waren sie da. Der kleine Platz war so unauffällig, wie Lily ihn in Erinnerung hatte, obwohl jetzt, in den frühen Morgenstunden, seine einzigen Bewohner schlafend in Ecken und Hauseingängen lagen. Das alte Gebäude selbst schien im silbernen Mondlicht unnatürlich groß und hoch vor ihnen aufzuragen und sich sowohl über den Platz zu neigen, als sich auch nach hinten an die gewaltigen Stadtmauern zu lehnen.
Lily streckte die Hand aus und drückte die Türklinke nach unten.
Die Tür ging ohne zu knarren oder ein sonstiges Geräusch einfach auf.
Theo öffnete eine Blende an der Laterne. Ein Lichtstrahl fiel in die Dunkelheit vor ihnen, ohne etwas darin anzustrahlen. Lily sah sich nach ihren Begleitern um. Sie mussten nichts sagen.
Sie traten ein.
Die Stille im Haus lastete schwer in der Luft. Lily hörte ihren eigenen Atem, der schneller und aufgeregter ging, als sie zugegeben hätte. Irgendetwas stimmte nicht. Die Tür war nicht verriegelt gewesen. Jedes andere Haus wäre sofort von Eindringlingen besetzt worden, die sich vor den nächtlichen Streifen der Eintreiber verbergen wollten. Lily folgte dem Strahl aus Theos Laterne. Er wanderte schwankend über einen staubigen Steinboden und alte Eichenbalken, dann blieb er stehen. Das Licht wurde in der Dunkelheit von etwas Metallischem reflektiert. Etwas Scharfem.
Lily hielt den Atem an, während Laud an der Blende seiner Laterne herumfummelte. Jetzt ärgerte sie sich, dass sie selbst keine Laterne mitgenommen hatte. Sie spürte, wie Benedikta in der Dunkelheit ihre Hand ergriff.
Lauds Blende öffnete sich. Der Strahl fiel heraus. Zuerst empfand Lily nichts anderes als Erleichterung. Es war keine Waffe. Dann schaute sie noch einmal hin.
»Tja«, flüsterte Theo ehrfürchtig, »aus diesem Grund hat er es das Uhrwerkhaus genannt.«
Vor ihnen stand ein komplizierter Mechanismus; ein Gewirr aus Zahnrädern, Kurbelwellen und Drehscheiben erhob sich bis zur Zimmerdecke und bohrte sich durch die Bodenfliesen weiter nach unten. Bis auf das glänzende, spitze Zahnrad, das ihren Lichtstrahl eingefangen hatte, war dem gesamten Gefüge der rostige Zahn der Zeit nur allzu deutlich anzusehen. Fasziniert berührte Lily das ihr nächstliegende Teil. Seine Oberfläche fühlte sich rau und kühl an. Diese Maschine war seit Jahren nicht benutzt worden. Mit einem Mal kam sich Lily im Vergleich mit diesem gewaltigen, unverständlichen Geheimnis klein und nichtig vor. Als sie sich umdrehte, sah sie, wie Benedikta und Laud staunend die Wände des Hauses untersuchten, während Theo die Anlage mit einem Ausdruck düsterer Vorahnung anstarrte.
»Nur ein feuchtes altes Haus«, murmelte Theo mit zitternder Stimme. »Eigentlich nichts Besonderes«, fügte er hinzu, als wollte er sich selbst überzeugen. »Hat wahrscheinlich irgendeinem Erfinder gehört, der vor vielen Jahren Pech hatte, so etwas kommt einem ja gelegentlich zu Ohren …«
»Welche Pflichten des Lordoberrichters verlangen von ihm, alte Gerätschaften zu begutachten?«, fragte ihn Lily und hob eine Augenbraue.
»Wer würde sich die Mühe machen, ohne jeden Grund etwas von dieser Größe zu bauen?«, fügte Laud hinzu und richtete sich auf. »Ich kann keinen Hebel oder Schalter entdecken. Wenn wir irgendwo eine Tür finden würden, vielleicht …«
»Oder eine Treppe?«, fragte Benedikta leise.
Die anderen drei drehten sich um und sahen Benedikta eine lose Bodenfliese beiseiteschieben, die aus deutlich dünnerem Stein bestand als die anderen. Darunter führte eine Holztreppe in die Dunkelheit. Lily kniete sich sofort neben dem Loch auf den Boden und spähte nach unten. Auf der darunterliegenden Treppe glitzerte etwas im Licht der Laterne.
Ein winziges Stück Blattgold, das, da war sich Lily sicher, von einer verzierten Maske mit dem Abbild einer Sonnenfinsternis herabgefallen war. Die Ereignisse des Abends von Marks Ball blitzten wieder vor ihr auf.
»Lord Ruthven muss hier hinuntergegangen sein«, hauchte sie.
Laud hielt seine Laterne tiefer in das Loch und leuchtete bis zum Fuß der Treppe. Dort war eine stabile Eichentür mit einer kunstvollen Schnitzerei zu sehen.
»Libra … die Waage«, sagte Theo leise. »Großvater hat mir wenigstens etwas beigebracht … Wartet … Waage … Libra …« Dann packte er
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