Die Stadt der verkauften Traeume
des Schmerzes zog über ihr Gesicht, verschwand allerdings rasch wieder. »Aberjetzt hört euch erst mal das hier an.« Sie begann zu lesen.
Nachdem die kürzlich erfolgte Festnahme von Peter aus dem Fische-Bezirk entscheidende Beweise zutage förderte, wird die Durchsuchung dieser Gegend eingestellt. Berichte über die folgenden Bereiche werden vorgelegt …
»Sie glauben, sie hätten die richtige Person gefunden, also haben sie einfach aufgehört! Sie haben sich noch nicht einmal richtig an der Stelle umgesehen, an der sie … gefunden wurde …«
Lily legte tröstend die Hand auf Benediktas Schulter, aber ihre Gedanken rasten bereits, während sie auf die Liste hinabsah. Trotz des Tonfalls des nüchternen Protokolls schien alles getan worden zu sein. Die Ermittlungen waren umfassend verlaufen. Bis auf …
»Ben«, sagte Lily, »wo genau ist sie noch mal gefunden worden?«
Benedikta sah zu ihrem Bruder hinüber. Er runzelte die Stirn und zeigte auf einen Punkt auf der Karte am Ende des Protokolls.
»Riegelstraße, an der Ecke«, murmelte er. »Sie haben immerhin alles ringsum abgesucht, so viel muss man ihnen zugestehen.«
»Warum haben sie dann nicht den Platz am anderen Ende der Riegelstraße durchsucht?«, fragte Lily. Das Muster der Gassen, die sich in unmittelbarer Nähe der Stadtmauer entlangzogen, rief etwas aus ihrer Erinnerung hervor. »Lord Ruthven …«, sagte sie und versuchte, den Erinnerungsfetzen festzuhalten.
»Der wird uns bestimmt nicht helfen«, meinte Theo. »Er ist kein großer Freund von Barmherzigkeit …«
»Nein, nicht helfen«, erwiderte Lily und dachte immer noch nach. Dann hatte sie es. »Riegelstraße! Genau dorthin bin ich Lord Ruthven gefolgt. Nach Marks Fest in den Gärten. Dort bin ich auch …« Lily verstummte, als sie sich bewusst wurde, was sie gerade sagte. »Dort bin ich Gloria begegnet. Vor einem alten Gebäude nahe der Stadtmauer. Dieses Haus haben die Eintreiber nicht durchsucht. Seht doch – da ist ein Kreuz auf der Karte! Man hat ihnen mitgeteilt, dort nicht zu suchen.«
Laud schüttelte den Kopf. »Die Chancen stehen eins zu einer Million. Was sagt uns, dass dieses Gebäude wichtiger ist als jedes andere?«
»Die meisten Elendsviertel werden nicht von unserem Lordoberrichter aufgesucht«, antwortete Lily. Wieder wurde etwas aus ihrer Erinnerung nach oben gespült. »Ich glaube, ich habe gehört, wie er zuvor darüber gesprochen hat. Er nannte es das Uhrwerkhaus.«
Laud sah aus, als ob er einen weiteren Einwand vorbringen wollte, bis er Benediktas Blick auffing. Etwas ging zwischen den beiden hin und her, eine Art stille Übereinkunft, die Lily nicht näher deuten konnte. Dann nickte Laud vorsichtig. »Na schön. Vielleicht sollten wir doch in dieser Richtung …«
»Wir?« erkundigte sich Theo erschrocken. »Darum sollten sich doch sicherlich die Eintreiber kümmern.«
»Die werden nichts unternehmen, Theo«, sagte Lily. »Sie glauben ja, dass sie ihren Schuldigen bereits haben.« Sie gesellte sich zu Laud und Ben. »Wir bitten dich nicht, mit uns zu kommen, aber wir müssen die Wahrheit herausfinden.« Dann ging sie zu Theo und flüsterte so leise, dass nur er es hören konnte: »Wenn wir die Wahrheit nicht herausfinden, werden wir Gloria nie gehen lassen können.«
Theo sah die drei an, dann blickte er dorthin, wo Graf Stelli in einem an die Wand gerückten Feldbett schlief. Er verzog nachdenklich das Gesicht.
»Ich will nur rasch nach Großvater sehen, dann hole ich meine Laterne. Zu mehreren sind wir sicherer.«
Letztendlich ließen sie die Laterne geschlossen. Es war besser, sich im Mondlicht durch die Straßen zu bewegen, ohne große Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sogar nach Mitternacht waren die Gassen von Agora alles andere als menschenleer. Als sie sich dem Fische-Bezirk näherten, zogen Laud und Theo ihre Hüte tief ins Gesicht, während Lily und Benedikta – die sich durch nichts am Mitkommen hatte hindern lassen – sich schwarze Mäntel über die Schultern warfen. Alle vier gingen dicht beieinander, und zwar nicht, um sich gegenseitig zu wärmen, sondern um sich vor den Schatten überall um sie herum zu schützen, die sie aus tausend Augen beobachteten.
Beinahe erleichtert näherten sie sich ihrem Ziel. Als sie jedoch an die Ecke der Riegelstraße kamen, lief es Lily unweigerlich kalt über den Rücken. Sie fanden die Stelle, an der Gloria entdeckt worden war, sofort, weil dort ein paar Pflastersteine saubergefegt waren.
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