Die Stadt der verkauften Traeume
als die Schuldner weggingen, von denen manche hinausgezerrt werden mussten, weil sie sich überall festklammerten und wütend um sich schlugen. Einer hatte sogar einen Eintreiber angegriffen. Der Schuldner wurde schnell bewusstlos geschlagen, aber der verletzte Eintreiber lag noch immer im Keller, wo er von Theo verarztet wurde. Er war der einzige Patient, den ihr Haus in dieser Nacht beherbergte. Lily hatte die Lippen fest zusammengepresst, denn sie wusste, dass die Eintreiber nur darauf warteten, dass sie widersprach, ihre Stimme gegen sie erhob, damit sie sie auch gleich mit ins Gefängnis nehmen konnten. Als das Almosenhaus endlich leer war, begegnete sie Theos Blick.
»Lily …«, sagte er und hob hilflos die Hände.
Lily konnte nicht antworten. Nicht sofort. Sie wehrte ihn mit einer kurzen Geste ab, und einfühlsam, wie er war, widmete er sich ohne ein weiteres Wort wieder seiner Arbeit.
Aber jetzt, ganz allein auf dem Dach, hatte Lily nur noch ihre Gedanken zur Gesellschaft. Gedanken, gegen die sie sich verzweifelt wehrte. Gedanken, die sie daran erinnerten, dass sie Gloria angeboten hatte, hier zu arbeiten. Gedanken, die sie auf das zerfallende Gemäuer um sie herum blicken ließen, auf Theos Praxis, die selbst kurz vor der Schließung stand, denn seit Monaten hatte sie kein normaler Patient mehr aufgesucht. Sie hörte sich immer noch Mark anschreien, wie sie ihrer unbändigen Wut nachgab, die sie ergriffen hatte, weil sie sich so sicher war, dass hier Unrecht geschah. Ein besserer Mensch hätte versucht, Mark zu überreden, und ihn nicht angeklagt, aber so hatte sie sich ihren ältesten Freund zum Feind gemacht. Sie hätte ihm von seinem Vater erzählen sollen, auch wenn sie damit alles nur noch schlimmer gemacht hätte.
Dann dachte sie an ihre anderen Freunde. Der Schließungsbefehl flatterte aus ihren kraftlosen Fingern. Sie hatte geglaubt, alles ihrer Vision geopfert zu haben, aber alles, was sie heute Abend verloren hatte, waren ein paar Träume. Theo jedoch hatte seine Praxis dafür gegeben, Benedikta ihre Unschuld, Gloria ihr Leben. Sie hatte alles genommen, was sie ihr angeboten hatten, und es kaum zur Kenntnis genommen. Dabei war sie doch angeblich diejenige, die daran glaubte, dass man anderen helfen müsse.
Sie hörte Schritte hinter sich. Theo, dachte sie. Vor allem anderen musste sie jetzt unbedingt mit ihm reden. Sie drehte sich um.
Hinter ihr stand Laud und sah sie an.
Lily erstarrte, konnte nichts zu ihm sagen. Laud sah im Mondschein richtig gespenstisch aus. Seine blasse Haut war noch fahler als sonst, seine Augen lagen in dunklen Höhlen. Nur sein Haar, das er länger als gewöhnlich trug, schimmerte rot im silbernen Licht. Einen schrecklichen Moment lang traf sie seine Ähnlichkeit mit Gloria, und Lily musste sich wegdrehen, weil sie es nicht fertigbrachte, ihn anzusehen. Er kam näher, stellte sich neben sie und schaute ebenfalls hinunter auf die Straßen. Er sagte nichts.
»Wie geht es Benedikta?«, erkundigte sich Lily schließlich, als das Schweigen immer unerträglicher wurde.
»Besser«, sagte Laud mit müder Stimme. »Sie ist unten beim Doktor. Sie wollte früher wiederkommen, aber es gab … allerlei zu erledigen.«
»Natürlich«, erwiderte Lily schnell. »Ihr hättet nicht zurückkommen müssen. Es muss sehr schwer sein …«
»Benedikta wird darüber hinwegkommen«, erklärte Laud. Er blickte immer noch über die Stadt und vermied es, Lily anzusehen. »Sie ist stärker, als ich dachte.«
Lily nickte, sagte aber nichts. Die beiden standen noch ein wenig länger in der Stille.
»Hat Theo dir erzählt, dass das Almosenhaus geschlossen wurde?«, fragte Lily schließlich. »Ich will, dass du weißt, dass ich dich und Ben nicht darum bitten werde, für mich zu kämpfen. Es liegt in meiner Verantwortung, in meiner allein.« Dann fugte sie rasch hinzu: »Ich werde tun, was ich kann. Wenn es nicht funktioniert, dann ist es eben so, aber ich werde niemand anderen …«
»Das ist nicht deine Entscheidung, Lily.«
Lily sah Laud verdutzt an. Er blickte starr geradeaus, aber jetzt hielten seine Hände die Brüstung fester umklammert.
»Entscheidungen sind eine eigenartige Sache«, fuhr Laud nachdenklich fort. »Als damals unsere Eltern verschwanden, waren nur noch wir drei da. Wir mussten darum kämpfen, Benedikta zu behalten, sie war damals erst neun. Ich war dreizehn, dem Gesetz nach ein Mann, aber ich schaute immer noch zu Gloria auf. Sie war die große Schwester, sie
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